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2024/03/29 - 13:52

Heft 2

Als es schon unerträglich geworden war – einmal gegen Abend im November – und ich über den schmalen Teppich meines Zimmers wie in einer Rennbahn einherlief, durch den Anblick der beleuchteten Gasse erschreckt wieder wendete und in der Tiefe des Zimmers im Grund des Spiegels doch wieder ein neues Ziel bekam und aufschrie, um nur den Schrei zu hören, dem nichts antwortet und dem auch nichts die Kraft des Schreiens nimmt, der also aufsteigt ohne Gegengewicht und nicht aufhören kann, selbst wenn er verstummt, da öffnete sich aus der Wand heraus die Tür, so eilig, weil doch Eile nötig war und selbst die Wagenpferde unten auf dem Pflaster wie wildgewordene Pferde in der Schlacht irgendwo auf den gespreizten Hinterbeinen die Gurgeln preisgegeben sich erhoben.

Als kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Corridor, in dem die Lampe noch nicht brannte und blieb wie ein Balletmädchen auf den Fußspitzen stehn, auf einem unmerklich schaukelnden Fußbodenbalken. Von der Dämmerung des Zimmers gleich geblendet, wollte es mit dem Gesichte rasch in seine Hände, beruhigte sich aber unversehens mit dem Blick zum Fenster, vor dessen Kreuz der hochgetriebene Dunst der tiefen Straßenbeleuchtung endlich unter dem Dunkel liegen blieb. Mit dem rechten Ellbogen hielt sich das Kind vor der offenen Tür aufrecht an der Zimmerwand und ließ den Luftzug von draußen um die Gelenke der Füße streichen auch den Hals, auch die Schläfen entlang.

Ich sah ein wenig hin, dann sagte ich "Guntag" und nahm meinen Rock vom Ofenschirm, weil ich nicht so halbnackt dastehn wollte. Ein Weilchen lang hielt ich den Mund offen, damit mich die Aufregung durch den Mund verlasse. Ich hatte schlechten Speichel in mir, im Gesicht zitterten mir die Augenwimpern, in der 1. Stirnecke fühlte ich eine Spannung wie von einem schmerzlosen Flintenschuß, kurz es fehlte mir nichts, als dieser allerdings erwartete Besuch.

Das Kind stand noch an der Wand auf dem gleichen Platz, es hatte die rechte Hand an die Mauer gepreßt und konnte ganz rotwangig dessen nicht satt werden, daß die weißgetünchte Wand grobkörnig war und die Fingerspitzen rieb, die es immer wieder anschaute.

Ich sagte: Wollten Sie auch tatsächlich zu mir? Ist es kein Irrtum? Nichts leichter als ein Irrtum in diesem großen Hause. Ich heiße so und so, wohne im dritten Stock in Zimmer Nummer 11. Bin ich also der, den Sie besuchen wollten?

"Ruhe, Ruhe sagte das Kind über die Schulter weg alles ist schon richtig. "

"Dann kommen Sie weiter ins Zimmer herein, ich möchte die Türe schließen"

"Die Türe habe ich jetzt gerade geschlossen, machen Sie sich keine Mühe, beruhigen Sie sich überhaupt. "

Reden Sie nicht von Mühe. Aber auf diesem Gange wohnt eine Menge Leute, alle sind natürlich meine Bekannten; die meisten kommen jetzt aus den Geschäften; wenn sie in einem Zimmer reden hören, glauben sie einfach das Recht zu haben aufzumachen und nachzuschauen, was los ist. Es ist einmal schon so. Diese Leute haben die tägliche Arbeit hinter sich, wem würden sie sich in der provisorischen Abendfreiheit unterwerfen. Übrigens wissen Sie es ja auch. Lassen Sie mich also die Türe schließen

Ja was ist denn? Was haben Sie? Meinetwegen kann das ganze Haus hereinkommen. Und dann noch einmal, ich habe die Tür schon geschlossen, glauben Sie denn, nur Sie können die Tür schließen? Ich habe sogar mit dem Schlüssel zugesperrt.

Dann ist ja gut. Mehr will ich ja nicht. Mit dem Schlüssel hätten Sie gar nicht zusperren müssen. Und jetzt machen Sie es sich nur behaglich, wenn Sie schon einmal da sind. Sie sind mein Gast, vertrauen Sie mir völlig. Machen Sie sich nur breit ohne Angst. Ich werde Sie weder zum Hierbleiben zwingen, noch zum Weggehn. Muß ich das erst sagen? Kennen Sie mich so schlecht?

Nein, Sie hätten das wirklich nicht sagen müssen. Noch mehr, Sie hätten das gar nicht sagen sollen. Ich bin ein Kind warum soviel Umstände mit mir machen?

So schlimm ist es nicht. Natürlich ein Kind, aber gar so jung sind Sie nicht. Sie sind schon ganz erwachsen. Nehmen sie es mir nicht übel, sie sind schon in einem mir unangenehmen Alter. Wenn Sie ein Mädchen wären, dürften Sie sich nicht so einfach mit mir in einem Zimmer einsperren. Es müßte denn sein, ich gefiele Ihnen

Darüber müssen wir uns keine Sorgen machen. Ich wollte nur sagen, daß ich Sie gut kenne, schützt mich wenig, es enthebt Sie nur der Anstrengung, mir etwas vorzulügen. Trotzdem aber machen Sie mir Komplimente, lassen Sie das, ich fordere Sie auf, lassen Sie das. Dazu kommt, daß ich Sie nicht überall und immerfort kenne, gar bei dieser Finsternis. Es wäre viel besser, wenn Sie Licht machen ließen. Nein lieber nicht. Immerhin werde ich mir merken, daß Sie mir schon gedroht haben.

Wie? Ich hätte Ihnen gedroht? Aber ich bitte Sie. Ich bin ja so froh, daß Sie endlich hier sind. Ich sage endlich, weil es schon so spät ist. Es ist mir unbegreiflich, warum Sie so spät gekommen sind. Da ist es möglich, daß ich in der Freude so durcheinander gesprochen habe und daß Sie es gerade so verstanden haben. Daß ich so gesprochen habe, gebe ich zehnmal zu, ja ich habe Ihnen mit allem gedroht was Sie wollen. – Nur keinen Streit mit einern Gast. – Aber wie konnten Sie es für wahr halten, wie konnten Sie mich so kränken, warum wollen Sie mir mit aller Gewalt dieses kleine Weilchen Ihres Hierseins verderben. Ein fremder Mensch wäre entgegenkommender als Sie.

Das glaube ich, das war keine Weisheit, so nah, als Ihnen ein fremder Mensch entgegenkommen kann, bin ich Ihnen schon von Natur aus. Das wissen Sie auch, wozu also die Wehmut? Sagen sie daß Sie Komödie spielen wollen, gehe ich augenblicklich

So auch das wagen Sie mir zu sagen? Sie sind ein wenig zu kühn. Am Ende sind Sie doch in meinem Zimmer. Sie reiben Ihre Finger wie verrückt an meiner Wand. Mein Zimmer, meine Wand. Und außerdem ist das was Sie sagen lächerlich nicht nur frech. Sie sagen, Ihre Natur zwinge Sie mit mir in dieser Weise zu reden. Wirklich? Ihre Natur zwingt Sie? Das ist nett von Ihrer Natur. Aber was ist denn Ihre Natur? Ihre Natur ist meine Natur und wenn ich mich von Natur aus freundlich zu Ihnen verhalte, so dürfen auch Sie nicht anders

Ist das freundlich?

Ich rede von früher.

Wissen Sie wie ich später sein werde

Nichts weiß ich.

Und ich gieng zum Nachttisch hin, auf dem ich die Kerze anzündete. (Ich hatte in jener Zeit weder Gas – noch elektrisches Licht in meinem Zimmer.) Ich saß dann noch eine Weile beim Tisch bis ich auch dessen müde wurde, den Überzieher anzog, den Hut vom Kanapee nahm und die Kerze ausblies. Beim Hinausgehn verfieng ich mich in ein Sesselbein. Auf der Treppe traf ich einen Mieter aus dem gleichen Stockwerk. Sie gehn schon wieder weg Sie Lump sagte er auf seinen über zwei Stufen ausgebreiteten Beinen ausruhend. "Was soll ich machen sagte ich jetzt hab ich ein Gespenst im Zimmer gehabt." Sie sagen das mit der gleichen Unzufriedenheit, wie wenn Sie ein Haar in der Suppe gefunden hätten. – Sie spaßen, aber merken Sie sich, ein Gespenst ist ein Gespenst. – Sehr wahr. Aber wie wenn man überhaupt nicht an Gespenster glaubt. – Ja meinen Sie denn ich glaube an Gespenster?

Der kleine Ruinenbewohner.

Du sagte ich und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie (bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund) schlaf nicht ein.

Ich will ja weg, will die Treppe hinauf, wenn es sein muß unter Purzelbäumen. Von der Gesellschaft verspreche ich mir alles was mir fehlt, die Organisierung meiner Kräfte vor allem, denen eine solche Zuspitzung nicht genügt, wie sie die einzige Möglichkeit dieses Junggesellen auf der Gasse ausmacht. Dieser ist ja schon zufrieden, wenn er mit seiner allerdings schäbigen, aber festen Körperlichkeit standhält, seine paar Mahlzeiten schützt, Einflüsse anderer Menschen vermeidet, kurz soviel behält als in der auflösenden Welt nur möglich ist. Was er aber verliert, das sucht er mit Gewalt, sei es auch verändert, geschwächt, ja sei es auch nur scheinbar sein früheres Eigentum (und das ist es meistens) wieder zu bekommen. Sein Wesen ist also ein selbstmörderisches es hat nur Zähne für das eigene Fleisch und Fleisch nur für die eigenen Zähne. Denn ohne einen Mittelpunkt zu haben, ohne einen Beruf, eine Liebe, eine Familie, eine Rente zu haben d. h. ohne sich im Großen gegenüber der Welt versuchsweise natürlich nur zu halten ohne sie also durch einen großen Komplex an Besitztümern gewissermaßen zu verblüffen kann man sich vor augenblicklich zerstörenden Verlusten nicht bewahren. Dieser Junggeselle mit seinen dünnen Kleidern, seiner Betkunst, seinen ausdauernden Beinen, seiner gefürchteten Mietwohnung, seinem sonstigen gestückelten diesmal nach langer Zeit wieder hervorgerufenem Wesen hält alles dies mit beiden Armen beisammen und muß immer zwei seiner Sachen verlieren wenn er irgend eine geringe aufs geratewohl fängt. Natürlich liegt hier die Wahrheit, die nirgends so rein zu zeigende Wahrheit. Denn wer wirklich als vollendeter Bürger auftritt, also auf dem Meer in einem Schiff reist mit Schaum vor sich und mit Kielwasser hinter sich also mit vieler Wirkung ringsherum ganz anders als der Mann auf seinen paar Holzstückchen in den Wellen, die sich noch selbst gegenseitig stoßen und herunterdrücken, er dieser Herr und Bürger ist in keiner kleineren Gefahr. Denn er und sein Besitz ist nicht eins sondern zwei und wer die Verbindung zerschlägt, zerschlägt ihn mit. Wir und unsere Bekannten sind ja in dieser Hinsicht unkenntlich weil wir ganz verdeckt sind, ich z. B. bin jetzt verdeckt von meinem Beruf, von meinen eingebildeten oder wirklichen Leiden, von literarischen Neigungen u. s. w. Aber gerade ich spüre meinen Grund viel zu oft und viel zu stark, als daß ich auch nur halbwegs zufrieden sein könnte. Und diesen Grund brauche ich nur eine Viertelstunde ununterbrochen zu spüren, die giftige Welt wird mir in den Mund fließen wie das Wasser in den Ertrinkenden.

Zwischen mir und dem Junggesellen ist im Augenblick kaum ein Unterschied, nur daß ich noch an meine Jugend im Dorfe denken und vielleicht, wann ich will vielleicht selbst dann, wenn es nur meine Lage verlangt, mich dorthin zurückwerfen kann. Der Junggeselle aber hat nichts vor sich und deshalb auch hinter sich nichts. Im Augenblick ist kein Unterschied, aber der Junggeselle hat nur den Augenblick. Zu jener Zeit, die heute niemand kennen kann denn nichts kann so vernichtet sein wie jene Zeit, zu jener Zeit hat er es verfehlt als er seinen Grund dauernd spürte, so wie man plötzlich an seinem Leib ein Geschwür bemerkt, das bisher das letzte an unserem Körper war, ja nicht einmal das letzte, denn es schien noch nicht zu existieren, und jetzt mehr als alles ist was wir seit unserer Geburt leiblich besaßen. Waren wir bisher mit unserer ganzen Person auf die Arbeit unserer Hände auf das Gesehene unserer Augen, auf das Gehörte unserer Ohren, auf die Schritte unserer Füße gerichtet, so wenden wir uns plötzlich ganz ins Entgegengesetzte, wie eine Wetterfahne im Gebirge. Statt nun damals wegzulaufen, sei es auch in dieser letzten Richtung denn nur das Weglaufen konnte ihn auf den Fußspitzen und nur die Fußspitzen konnten ihn auf der Welt erhalten, statt dessen hat er sich hingelegt, wie sich im Winter hie und da Kinder in den Schnee legen, um zu erfrieren.

Er und diese Kinder, sie wissen ja, daß es ihre Schuld ist daß sie sich hingelegt oder sonstwie nachgegeben haben, sie wissen, daß sie es um keinen Preis hätten tun dürfen, aber sie können es nicht wissen, daß sie nach der Veränderung die jetzt mit ihnen auf den Feldern oder in der Stadt geschieht, an jede frühere Schuld und jeden Zwang vergessen und daß sie sich in dem neuen Element bewegen werden als sei es ihr erstes.

Ich schlafe nicht ein antwortete er und schüttelte während des Augenaufschlagens den Kopf. Wenn ich einschliefe, wie könnte ich Dich dann bewachen? Und muß ich das nicht Hast Du Dich nicht damals vor der Kirche deshalb an mir festgehalten? Ja es ist schon lange her, wir wissen es, laß nur die Uhr in der Tasche.

Es ist nämlich schon sehr spät sagte ich. Ich mußte ein wenig lächeln und um es zu verdecken schaute ich angestrengt ins Haus hinein.

Gefällt es Dir wirklich so? Du möchtest also gerne hinauf, sehr gerne? Also sags doch, ich beiß Dich doch nicht. Schau, wenn Du glaubst, daß es Dir oben besser gehn wird, als hier unten, dann geh einfach hinauf, sofort, ohne an mich zu denken. Daß es meine Ansicht ist, also die Ansicht eines x beliebigen Passanten, daß Du bald wieder herunterkommen wirst, und daß es dann sehr gut sein wird, wenn hier auf irgendeine Weise jemand steht, dessen Gesicht Du gar nicht anschauen wirst, der Dich aber unter den Arm nimmt in einem nahen Lokal mit Wein stärkt und Dich dann in sein Zimmer führt, das so elend es ist, doch ein paar Scheiben zwischen sich und der Nacht hat, auf diese Ansicht kannst Du vorläufig pfeifen. Wahr ist es, das kann ich vor wem Du willst wiederholen, hier unten geht es uns schlecht, ja es geht uns sogar hundsmiserabel, aber mir ist nun nicht zu helfen ob ich hier in der Abflußrinne liege und das Regenwasser staue oder oben mit den gleichen Lippen Champagner trinke mir macht das keinen Unterschied. Übrigens habe ich ja nicht einmal zwischen diesen zwei Dingen die Wahl, mir geschieht ja niemals etwas derartiges das die Leute aufpassen läßt, wie könnte es auch geschehn unter dem Aufbau der für mich nötigen Ceremonien unter denen ich ja nur weiterkriechen kann nicht besser wie ein Ungeziefer. Du allerdings wer weiß was alles in Dir steckt, Mut hast Du, wenigstens glaubst Du ihn zu haben, versuchs doch, was wagst Du denn, oft erkennt man sich schon, wenn man aufpaßt im Gesicht des Dieners bei der Tür.

Wenn ich nur bestimmt wüßte, daß Du aufrichtig zu mir bist. Ich wäre schon längst oben. Wie könnte ich nur herausbringen ob Du aufrichtig zu mir bist. Du schaust mich jetzt an wie wenn ich ein kleines Kind wäre, das hilft mir nichts, das macht es ja noch ärger. Aber vielleicht willst Du es ärger machen. Dabei vertrage ich die Luft auf der Gasse nicht mehr, so gehöre ich in die Gesellschaft schon hinauf, wenn ich acht gebe, kratzt es mich im Hals, da hast Du es übrigens ich huste hast Du denn eine Ahnung, wie es mir oben gehn wird. Und der Fuß, mit dem ich den Saal betreten werde, wird schon verwandelt sein, ehe ich den andern nachziehe.

Du hast recht, ich bin nicht aufrichtig zu Dir

Aber Vergessen ist hier kein richtiges Wort. Das Gedächtnis dieses Mannes hat ebensowenig gelitten als seine Einbildungskraft. Aber Berge können sie eben nicht versetzen; der Mann steht nun einmal außerhalb unseres Volkes, außerhalb unserer Menschheit, immerfort ist er ausgehungert, ihm gehört nur der Augenblick, der immer fortgesetzte Augenblick der Plage, dem kein Funken eines Augenblicks der Erhöhung folgt, er hat immer nur eines: seine Schmerzen aber im ganzen Umkreis der Welt kein Zweites, das sich als Medicin aufspielen könnte, er hat nur soviel Boden als seine zwei Füße brauchen, nur soviel Halt als seine zwei Hände bedecken, also um soviel weniger als der Trapezkünstler im Variete, für den sie unten noch ein Fangnetz aufgehängt haben. Uns andere uns hält ja unsere Vergangenheit und Zukunft, fast allen unseren Müßiggang und wie viel von unserem Beruf verbringen wir damit, sie im Gleichgewicht auf und abschweben zu lassen. Was die Zukunft an Umfang voraus hat, ersetzt die Vergangenheit an Gewicht und an ihrem Ende sind ja die beiden nicht mehr zu unterscheiden früheste Jugend wird später hell wie die Zukunft ist und das Ende der Zukunft ist mit allen unsern Seufzern eigentlich schon erfahren und Vergangenheit. So schließt sich fast dieser Kreis, an dessen Rand wir entlang gehn. Nun dieser Kreis gehört uns ja, gehört uns aber nur solange als wir ihn halten, rücken wir nur einmal zur Seite, in irgendeiner Selbstvergessenheit, in einer Zerstreuung einem Schrecken, einem Erstaunen, einer Ermüdung, schon haben wir ihn in den Raum hinein verloren, wir hatten bisher unsere Nase im Strom der Zeiten stecken, jetzt treten wir zurück, gewesene Schwimmer, gegenwärtige Spaziergänger und sind verloren. Wir sind außerhalb des Gesetzes, keiner weiß es und doch behandelt uns jeder danach.

6/XI 10 Was ich übrigens leicht verschmerze, denn mir ist weder das eine noch das andere erlaubt und deshalb ist es nicht recht wenn ich mich mit Dir vergleiche. Denn Du! Wie lange bist Du eigentlich in der Stadt Wie lange Du in der Stadt bist frag ich.

Fünf Monate. Aber ich kenne sie auch schon genau. Du, ich habe mir keine Ruhe gegeben. Wenn ich so zurückschau, weiß ich gar nicht ob Nächte vorgekommen sind, es kommt mir alles kannst Du es Dir denken, wie ein Tag vor und da gab es keine Tageszeiten, nicht einmal Lichtunterschiede

6 XI 10

Conference einer Madame Chenu über Musset. Jüdische Frauengewohnheit des Schmatzens, Verstehn des Französisch durch alle Vorbereitungen und Schwierigkeiten der Anekdote, bis knapp vor dem Schlußwort, das auf den Trümmern der ganzen Anekdote im Herzen weiterleben soll, das Französisch uns vor den Augen verlöscht, vielleicht haben wir uns bis dahin zu sehr angestrengt, die Leute, welche Französisch verstehn gehn vor dem Schluß weg, da sie schon genug gehört, die andern haben noch lange nicht genug gehört, Akustik des Saales, die das Husten in den Logen mehr begünstigt, als das vorgetragene Wort; Nachtmahl bei der Rachel sie liest Racine: Phädra mit Musset, das Buch liegt zwischen ihnen auf dem Tisch, auf dem übrigens alles mögliche liegt. Consul Claudel, Glanz in den Augen, den das breite Gesicht aufnimmt und widerstrahlt, er will sich immerfort verabschieden, es gelingt ihm auch im einzelnen, im allgemeinen aber nicht, denn wenn er einen verabschiedet, steht ein neuer da, an den sich der schon verabschiedete wieder anreiht. Über der Vortragsbühne ist eine Gallerie für das Orchester. Aller mögliche Lärm stört. Kellner aus dem Flur, Gäste in ihren Zimmern, ein Klavier, ein fernes Streichorchester, ein Hämmern endlich eine Zänkerei, deren Lokalisierung große Schwierigkeiten macht und deshalb reizt. In einer Loge eine Dame mit Diamanten in den Ohrringen, deren Licht fast ununterbrochen wechselt. An der Kassa junge schwarzgekleidete Leute eines französischen Cirkels. Einer grüßt mit einer scharfen Verbeugung, die seine Augen über den Boden hinfahren läßt. Dabei lächelt er stark. Das macht er aber nur vor Mädchen, Männern schaut er gleich darauf offen ins Gesicht mit ernst gehaltenem Mund, womit er gleichzeitig die vorige Begrüßung als eine vielleicht lächerliche aber jedenfalls unumgängliche Ceremonie erklärt.

7XI 10

Vortrag Wiegler über Hebbel. Sitzt auf der Bühne in der Dekoration eines modernen Zimmers, als ob seine Geliebte durch eine Tür hereinspringen würde, um das Stück endlich zu beginnen. Nein, er trägt vor. Hunger Hebbels. Kompliciertes Verhältnis zu Elisa Lensing. Er hat in der Schule eine alte Jungfer zur Lehrerin, die raucht schnupft prügelt und den Braven Rosinen schenkt. Er fährt überall [Heidelberg, München, Paris] ohne recht sichtbare Absicht hin. Ist zuerst Diener beim Kirchspielvogt, schläft in einem Bett mit dem Kutscher unter der Treppe.

Jetzt kommt es Dir vielleicht so vor, als ob ich mich darüber beklagen wollte? Aber nein, warum mich darüber beklagen, mir ist doch weder das eine noch das andere erlaubt. Ich habe nur meine Promenaden zu machen und damit soll es genug sein, dafür gibt es aber auch keinen Ort in der Welt, auf dem ich nicht meine Promenaden machen könnte. Jetzt scheint es aber wieder so, als wäre ich eitel darauf

Ich habe es also leicht. Ich müßte vor dem Haus hier nicht stehn bleiben.

Darin also vergleich Dich mit mir nicht und laß Dich nicht von mir unsicher machen. Du bist doch ein erwachsener Mensch, bist überdies wie es scheint, in der Stadt hier ziemlich verlassen

Ja spürst Du es denn nicht an Deinem Muth, daß Du Dich in diesen Dingen mit mir nicht vergleichen kannst. Ich begreife das nicht. Wie lange bist Du denn schon hier in der Stadt?

"Fünf Monate" sagte ich so vorsichtig, daß ich nachher noch den Mund offen behielt. Ja, fünf Monate. Das war richtig. Ich ließ das Tor

Schließlich spürst Du es, wenn Du acht gibst, schon an Deinem

Darin kannst Du Dich eben mit mir nicht vergleichen. Aber muß ich Dir das sagen, schließlich spürst Du es ja wenn Du acht gibst schon an Deinem Muth. Wie lange bist Du eigentlich schon in der Stadt.

Fünf Monate sagte ich so vorsichtig daß ich nachher noch den Mund offen behielt.

Darin kannst Du Dich eben mit mir nicht vergleichen. Daß ich Dir das aber erst sagen muß! Spürst Du es denn, wenn Du acht gibst, nicht schon an Deinem Muth? Wie lange bist Du eigentlich schon in der Stadt?

Und diese Morgen, man schaut aus dem Fenster, zieht den Sessel vom Bett und setzt sich zum Kaffee. Und diese Abende man stützt den Arm auf und hält mit der Hand das Ohr. Ja wenn das nur nicht alles wäre! Wenn man doch wenigstens ein paar neue Gewohnheiten annähme, wie sie hier in den Gassen jeden Tag zu sehen sind

Julius Schnorr von Karolsfeld na Zeichnung Friedrich Olivier, er zeichnet auf einem Abhang wie schön und ernst ist er da (ein hoher Hut wie eine abgeplattete Clownmütze mit steifem ins Gesicht gehendem schmalen Rand, gewellte lange Haare, Augen nur für sein Bild, ruhige Hände, die Tafel auf den Knien, ein Fuß ist auf der Böschung ein wenig tiefer gerutscht.)

aber nein das ist Friedrich Olivier von Schnorr gezeichnet

An mich also darfst Du jetzt nicht denken. Wie willst Du Dich auch mit mir vergleichen. Ich bin ja schon über 20 Jahre hier in der Stadt. Stellst Du Dir auch nur richtig vor was das ist. Zwanzigmal habe ich jede Jahreszeit hier verbracht –

Jetzt schüttelte er die lose Faust über unseren Köpfen.

Die Bäume hier sind zwanzig Jahre lang hinaufgewachsen, wie klein sollte man unter ihnen werden. Und diese vielen Nächte, weißt Du, in allen den Wohnungen. Einmal liegt man an dieser, einmal an jener Mauer, so wandert das Fenster um einen herum. Und diese Morgen,

Ich bin ja nahe daran. Schon schien sich mein schützendes Wesen hier in der Stadt aufzulösen, ich war schön in den ersten Tagen denn diese Auflösung geschieht als eine Apotheose, wo alles was uns am Leben erhält uns entfliegt, aber noch im Entfliegen uns mit seinem menschlichen Licht zum letztenmal bestrahlt. So stehe ich vor meinem Junggesellen und er liebt mich deshalb höchstwahrscheinlich, ohne sich aber darüber klar zu sein warum. Gelegentlich scheinen seine Reden darauf zu deuten, daß er sich auskennt, daß er weiß, wen er vor sich hat und daß er sich deshalb alles erlauben darf. Nein, so ist es aber nicht. In dieser Weise würde er vielmehr jedem entgegentreten, denn er kann nur als Einsiedler oder als Schmarotzer leben. Er ist nur Einsiedler aus Zwang, wird dieser Zwang einmal durch ihm unbekannte Kräfte wie in diesem Falle überwunden, schon ist er Schmarotzer, der sich frech anhält wie er nur kann. Retten kann ihn allerdings nichts mehr auf der Welt und so kann man bei seinem Benehmen an die Leiche eines Ertrunkenen denken, die durch irgend eine Strömung an die Oberfläche getrieben an einen müden Schwimmer stößt, die Hände an ihn legt und sich festhalten möchte. Die Leiche wird nicht lebendig ja nicht einmal geborgen werden, aber den Mann kann sie hinunterziehn

An mich also darfst Du jetzt nicht denken. Es ist angenehm, ich weiß es, in einer fremden Stadt sich einem Mann, den man für erfahren hält, ein für alle Mal gleichzusetzen

An mich also darfst Du jetzt nicht denken.

10 Uhr 15. November 1910 Ich werde mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte.

16 Nov. (1910) 12 Uhr Ich lese Iphigenie auf Tauris. Darin ist wirklich von einzelnen offen fehlerhaften Stellen abgesehen die ausgetrocknete deutsche Sprache im Munde eines reinen Knaben förmlich anzustaunen. Jedes Wort wird von dem Vers vor dem Lesenden im Augenblick des Lesens auf die Höhe getragen, wo es in einem vielleicht magern aber durchdringenden Lichte steht.

27 (November 1910) Bernhard Kellermann hat vorgelesen: einiges ungedruckte aus meiner Feder, so fieng er an. Scheinbar ein lieber Mensch, fast graues stehendes Haar, mit Mühe glatt rasiert, spitze Nase, über die Backenknochen geht das Wangenfleisch oft wie eine Welle auf und ab. Er ist ein mittelmäßiger Schriftsteller mit guten Stellen (ein Mann geht auf den Korridor hinaus, hustet und sieht herum, ob niemand da ist) auch ein ehrlicher Mensch, der lesen will, was er versprochen hat, aber das Publikum ließ ihn nicht, aus Schrecken über die erste Nervenheilanstaltgeschichte, aus Langweile über die Art des Vorlesens giengen die Leute trotz schlechter Spannungen der Geschichte immerfort einzeln weg mit einem Eifer, als ob nebenan vorgelesen werde. Als er nach dem 1/3 der Geschichte ein wenig Mineralwasser trank, gieng eine ganze Menge Leute weg. Er erschrak. Es ist gleich fertig, log er einfach. Als er fertig war, stand alles auf, es gab etwas Beifall, der so klang als wäre mitten unter allen den stehenden Menschen einer sitzen geblieben und klatschte für sich. Nun wollte aber Kellermann noch weiterlesen eine andere Geschichte, vielleicht noch mehrere. Gegen den Aufbruch öffnete er nur den Mund. Endlich nachdem er beraten worden war sagte er: Ich möchte noch gerne ein kleines Märchen vorlesen, das nur 15 Minuten dauert. Ich mache 5 Minuten Pause. Einige blieben noch, worauf er ein Märchen vorlas, das Stellen hatte, die jeden berechtigt hätten, von der äußersten Stelle des Saales mitten durch und über alle Zuhörer hinauszurennen.

Rudle 1 K

schuldig

Kars 20 h

Du sagte ich und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie (bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund) schlaf nicht ein

"Ich schlafe nicht ein" sagte er rasch und schüttelte während des Augenaufschlagens den Kopf. Wenn ich einschliefe, wie könnte ich Dich dann bewachen? Und muß ich das nicht. Hast Du Dich nicht damals vor der Kirche deshalb an mir festgehalten. Ja es ist schon lange her, wir wissen es, laß nur die Uhr in der Tasche.

Es ist nämlich schon sehr spät sagte ich und zuckte mit den Achseln, womit ich zugleich meine Ungeduld entschuldigte und ihm einen Vorwurf darüber machte, daß er mich so lange aufhielt.

"Du" sagte ich und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie (bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund).

Ich habe an Dich nicht vergessen sagte er und schüttelte den Kopf schon während des Augenaufschlagens

Ich habe es auch nicht befürchtet sagte ich. Sein Lächeln übersah ich und schaute auf das Pflaster. "Ich wollte Dir nur sagen, daß ich jetzt auf jeden Fall hinaufgehn werde. Ja. Denn wie Du weißt bin ich oben eingeladen, es ist schon spät und die Gesellschaft wartet auf mich. Vielleicht werden einzelne Veranstaltungen aufgeschoben bis ich komme. Ich will es nicht behaupten aber möglich ist es immerhin. Du wirst mich jetzt fragen, ob ich nicht vielleicht überhaupt auf die Gesellschaft verzichten könnte.

Das werde ich nicht fragen, denn erstens brennst Du ja darauf, es mir zu sagen und zweitens kümmert es mich nichts, denn mir ist hier unten und dort oben ganz gleich. Ob ich hier unten in der Abflußrinne liege und das Regenwasser staue oder oben mit den gleichen Lippen Champagner trinke mir macht das keinen Unterschied, nicht einmal im Geschmack

15 XII 10 Meinen Folgerungen aus meinem gegenwärtigen nun schon fast ein Jahr dauerndem Zustand glaube ich einfach nicht, dazu ist mein Zustand zu ernst. Ich weiß ja nicht einmal ob ich sagen kann daß es kein neuer Zustand ist. Meine eigentliche Meinung allerdings ist: dieser Zustand ist neu, ähnliche hatte ich, einen solchen aber noch nicht. Ich bin ja wie aus Stein, wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich, da ist keine Lücke für Zweifel oder für Glauben, für Liebe oder Widerwillen, für Muth oder Angst im besonderen oder allgemeinen, nur eine vage Hoffnung lebt, aber nicht besser, als die Inschriften auf den Grabdenkmälern. Kein Wort fast das ich schreibe paßt zum andern, ich höre wie sich die Konsonanten blechern an einander reiben und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger. Meine Zweifel stehn um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort, aber was denn! ich sehe das Wort überhaupt nicht, das erfinde ich. Das wäre ja noch das größte Unglück nicht, nur müßte ich dann Worte erfinden können, welche imstande sind, den Leichengeruch in einer Richtung zu blasen, daß er mir und dem Leser nicht gleich ins Gesicht kommt. Wenn ich mich zum Schreibtisch setze ist mir nicht wohler als einem der mitten im Verkehr des place de 1’Opera fällt und beide Beine bricht. Alle Wagen streben trotz ihres Lärmens schweigend von allen Seiten nach allen Seiten, aber bessere Ordnung als die Schutzleute macht der Schmerz jenes Mannes, der ihm die Augen schließt und den Platz und die Gassen verödet, ohne daß die Wagen umkehren müßten. Das viele Leben schmerzt ihn, denn er ist ja ein Verkehrshindernis, aber die Leere ist nicht weniger arg, denn sie macht seinen eigentlichen Schmerz los.

16 (Dezember 1910) Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es.

Gerne möchte ich das Glücksgefühl erklären, das ich von Zeit zu Zeit wie eben jetzt in mir habe. Es ist wirklich etwas moussierendes, das mich mit leichtem angenehmen Zucken ganz und gar erfüllt und das mir Fähigkeiten einredet von deren Nichtvorhandensein ich mich jeden Augenblick auch jetzt mit aller Sicherheit überzeugen kann.

Hebbel lobt Justinus Kerner "Reiseschatten"

"Und solch ein Werk existiert kaum, niemand kennt es"

Die Straße der Verlassenheit von W. Fred. Wie werden solche Bücher geschrieben? Ein Mann, der im Kleinen Tüchtiges fertig bringt, dehnt hier sein Talent in einer so erbärmlichen Weise ins Große eines Romans aus, daß einem übel wird, selbst wenn man nicht vergißt, die Energie in der Mißhandlung des eigenen Talentes zu bewundern.

Dieses Verfolgen nebensächlicher Personen von denen ich lese in Romanen, Teaterstücken u. s. w. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich da habe! In den "Jungfern von Bischofsberg" (heißt es so?) wird von zwei Näherinnen gesprochen, die das Weißzeug für die eine Braut im Stücke machen. Wie geht es diesen 2 Mädchen? Wo wohnen sie? Was haben sie angestellt, daß sie nicht mit ins Stück dürfen, sondern förmlich draußen vor der Arche Noah unter den Regengüssen ertrinkend zum letztenmal nur ihr Gesicht an ein Kajütenfenster drücken dürfen, damit der Parterrebesucher für einen Augenblick etwas Dunkles dort sieht.

17 (Dezember 1910) Zeno sagte auf eine dringliche Frage hin, ob denn nichts ruhe: Ja der fliegende Pfeil ruht

Wenn die Franzosen ihrem Wesen nach Deutsche wären, wie würden sie dann erst von den Deutschen bewundert sein.

Daß ich soviel weggelegt und weggestrichen habe, ja fast alles was ich in diesem Jahre überhaupt geschrieben habe, das hindert mich jedenfalls auch sehr am Schreiben. Es ist ja ein Berg, es ist 5 mal soviel als ich überhaupt je geschrieben habe und schon durch seine Masse zieht es alles was ich schreibe, mir unter der Feder weg zu sich hin

18 (Dezember 1910) Wenn es nicht zweifellos wäre, daß der Grund dessen, daß ich Briefe (selbst solche voraussichtlich unbedeutenden Inhalts, wie eben jetzt einen) eine Zeitlang uneröffnet liegen lasse, nur Schwäche und Feigheit ist, die mit dem Aufmachen eines Briefes ebenso zögert,'wie sie zögern würde die Tür eines Zimmers zu öffnen, in dem ein Mensch vielleicht schon ungeduldig auf mich wartet, dann könnte man dieses Liegenlassen der Briefe noch viel besser mit Gründlichkeit erklären. Angenommen nämlich, ich sei ein gründlicher Mensch so muß ich versuchen alles möglichst auszudehnen, was den Brief betrifft, also ihn schon langsam öffnen, langsam und vielmals lesen, lange überlegen, mit vielen Koncepten die Reinschrift vorbereiten und schließlich noch mit dem Wegschicken zögern. Das alles liegt in meiner Macht, nur eben das plötzliche Bekommen des Briefes läßt sich nicht vermeiden. Nun ich verlangsame auch das auf künstliche Weise, ich öffne ihn lange nicht, er liegt auf dem Tisch vor mir, immerfort bietet er sich mir an, immerfort bekomme ich ihn, nehme ihn aber nicht.

Schöngeist

abend 1/2 12. Daß ich, solange ich von meinem Bureau nicht befreit bin, einfach verloren bin, das ist mir über alles klar, es handelt sich nur darum, so lange es geht den Kopf so hoch zu halten, daß ich nicht ertrinke. Wie schwer das sein wird, welche Kräfte es aus mir wird herausziehn müssen, zeigt sich schon daran, daß ich heute meine neue Zeiteinteilung, von 8 – 11" abends beim Schreibtisch zu sein, nicht eingehalten habe, daß ich dieses sogar gegenwärtig für kein so großes Unglück halte, daß ich diese paar Zeilen nur eilig hingeschrieben habe, um ins Bett zu kommen.

19 (Dezember 1910) Im Bureau zu arbeiten angefangen. Nachmittag bei Max.

Ein wenig Goethes Tagebücher gelesen. Die Ferne hält dieses Leben schon beruhigt fest, diese Tagebücher legen Feuer dran. Die Klarheit aller Vorgänge macht sie geheimnisvoll, so wie ein Parkgitter dem Auge Ruhe gibt, bei Betrachtung weiter Rasenflächen und uns doch in unebenbürtigen Respekt setzt.

Gerade kommt meine verheiratete Schwester zum erstenmal zu uns zu Besuch.

20 (Dezember 1910) Womit entschuldige ich die gestrige Bemerkung über Goethe (die fast so unwahr ist, wie das von ihr beschriebene Gefühl, denn das wirkliche ist von meiner Schwester vertrieben worden)? Mit nichts. Womit entschuldige ich, daß ich heute noch nichts geschrieben habe? Mit nichts. Zumal meine Verfassung nicht die schlechteste ist. Ich habe immerfort eine Anrufung im Ohr: "Kämest Du unsichtbares Gericht! "

Damit diese falschen Stellen, die um keinen Preis aus der Geschichte herauswollen, mir endlich Ruhe geben schreibe ich zwei her:

"Seine Athemzüge waren laut wie Seufzer über einen Traum, in dem das Unglück leichter zu tragen ist, als in unserer Welt, sodaß einfache Athemzüge schon genügendes Seufzen sind. "

"Jetzt überblickte ich ihn so frei, wie man ein kleines Geduldspiel überblickt, von dem man sich sagt: "Was tut es, daß ich die Kügelchen nicht in ihre Höhlungen bringen kann, alles gehört mir ja, das Glas, die Fassung, die Kügelchen und was noch da ist; diese ganze Kunst kann ich einfach in die Tasche stecken. "

21 (Dezember 1910) Merkwürdigkeiten aus "Taten des

großen Alexander" von Michail Kusmin:

"Kind, dessen obere Hälfte tot, untere lebend", "Kindesleiche mit den sich bewegenden roten Beinchen"

"die unreinen Könige Gog und Magog, die sich von Würmern und Fliegen nährten, vertrieb er in geborstene Felsen

und versiegelte sie bis ans Ende der Welt mit dem Siegel Salomonis"

"steinerne Flüsse, wo an Stelle des Wassers mit Getöse Steine sich wälzten, vorbei an den Sandbächen, die 3 Tage

lang gegen Süden fließen und 3 Tage gegen Norden"

Amazonen, Frauen mit ausgebrannten rechten Brüsten, kurzen Haaren, Männerschuhwerk

Krokodile, die mit ihrem Harn Bäume verbrannten

Bei Baum gewesen, so schöne Sachen gehört. Ich hinfällig wie früher und immer. Das Gefühl haben, gebunden zu sein und gleichzeitig das andere, daß, wenn man losgebunden würde, es noch ärger wäre.

22 (Dezember 1910) Heute wage ich es nicht einmal, mir Vorwürfe zu machen. In diesen leeren Tag hineingerufen hätte das einen ekelhaften Widerhall.

24 (Dezember 1910) Jetzt habe ich meinen Schreibtisch genauer angeschaut und eingesehn, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann. Es liegt hier so vieles herum und bildet eine Unordnung ohne Gleichmäßigkeit und ohne jede Verträglichkeit der ungeordneten Dinge, die sonst jede Unordnung erträglich macht. Sei auf dem grünen Tuch eine Unordnung wie sie will, das durfte auch im Parterre der alten Teater sein. Daß aber aus den Stehplätzen

25 (Dezember 1910) aus dem offenen Fach unter dem Tischaufsatz hervor Broschüren, alte Zeitungen, Kataloge Ansichtskarten, Briefe, alle zum Teil zerrissen, zum Teil geöffnet in Form einer Freitreppe hervorkommen, dieser unwürdige Zustand verdirbt alles. Einzelne verhältnismäßig riesige Dinge des Parterres treten in möglichster Aktivität auf, als wäre es im Teater erlaubt, daß im Zuschauerraum der Kaufmann seine Geschäftsbücher ordnet, der Zimmermann hämmert, der Officier den Säbel schwenkt, der Geistliche dem Herzen zuredet, der Gelehrte dem Verstand, der Politiker dem Bürgersinn, daß die Liebenden sich nicht zurückhalten u. s. w. Nur auf meinem Schreibtisch steht der Rasierspiegel aufrecht, wie man ihn zum Rasieren braucht, die Kleiderbürste liegt mit ihrer Borstenfläche auf dem Tuch, das Portemonnaie liegt offen für den Fall daß ich zahlen will, aus dem Schlüsselbund ragt ein Schlüssel fertig zur Arbeit vor und die Kravatte schlingt sich noch teilweise um den ausgezogenen Kragen. Das nächst höhere, durch die kleinen geschlossenen Seitenschubladen schon eingeengte offene Fach des Aufsatzes ist nichts als eine Rumpelkammer, so als würde der niedrige Balkon des Zuschauerraumes, im Grunde die sichtbarste Stelle des Teaters für die gemeinsten Leute reserviert für alte Lebemänner, bei denen der Schmutz allmählich von innen nach außen kommt, rohe Kerle, welche die Füße über das Balkongeländer herunterhängen lassen, Familien mit soviel Kindern, daß man nur kurz hinschaut, ohne sie zählen zu können richten hier den Schmutz armer Kinderstuben ein (es rinnt ja schon im Parterre) im dunklen Hintergrund sitzen unheilbare Kranke, man sieht sie glücklicherweise nur wenn man hineinleuchtet u. s. w. In diesem Fach liegen alte Papiere die ich längst weggeworfen hätte wenn ich einen Papierkorb hätte, Bleistifte mit abgebrochenen Spitzen, eine leere Zündholzschachtel, ein Briefbeschwerer aus Karlsbad, ein Lineal mit einer Kante, deren Holprigkeit für eine Landstraße zu arg wäre, viele Kragenknöpfe, stumpfe Rasiermessereinlagen (für die ist kein Platz auf der Welt), Krawattenzwicker und noch ein schwerer eiserner Briefbeschwerer. In dem Fach darüber –

Elend, elend und doch gut gemeint. Es ist ja Mitternacht, aber das ist, da ich sehr gut ausgeschlafen bin, nur insoferne Entschuldigung als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte. Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen, die letzten Augenblicke des Wachseins sie geben mir das Recht zu schreiben und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benütze ich eilig. Das bin ich also.

26 (Dezember 1910) zwei 1/2 Tage war ich – allerdings nicht vollständig – allein und schon bin ich, wenn auch nicht verwandelt, so doch auf dem Wege. Das Alleinsein hat eine Kraft über mich, die nie versagt. Mein Inneres löst sich (vorläufig nur oberflächlich) und ist bereit Tieferes hervorzulassen. Eine kleine Ordnung meines Innern fängt an sich herzustellen und nichts brauche ich mehr, denn Unordnung bei kleinen Fähigkeiten ist das Ärgste.

27 (Dezember 1910) Meine Kraft reicht zu keinem Satz mehr aus. Ja, wenn es sich um Worte handeln würde, wenn es genügte ein Wort hinzusetzen und man sich wegwenden könnte im ruhigen Bewußtsein, dieses Wort ganz mit sich erfüllt zu haben.

Zum Teil habe ich den Nachmittag verschlafen, während des Wachseins lag ich auf dem Kanapee, überdachte einige Liebeserlebnisse aus meiner Jugend, hielt mich ärgerlich bei einer versäumten Gelegenheit auf (damals lag ich etwas verkühlt im Bett und meine Gouvernante las mir die "Kreuzersonate" vor, wobei sie es verstand meine Aufregung zu genießen), stellte mir das vegetarische Nachtmahl vor, war mit meiner Verdauung zufrieden und hatte Befürchtungen, darüber, ob mein Augenlicht für mein ganzes Leben genügen wird.

28 (Dezember 1910) Wenn ich mich ein paar Stunden menschlich benommen habe, wie heute mit Max und später bei Baum, bin ich vor dem Schlafengehn schon hochmütig

3 I 11

"Du" sagte ich und gab ihm hierauf einen kleinen Stoß mit dem Knie. "Ich will mich verabschieden." Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund.

"Das hast Du Dir aber lange überlegt" sagte er trat von der Wand weg und streckte sich.

Nein. Das habe ich mir gar nicht überlegt.

Worüber hast Du also nachgedacht?

Ich habe mich zum letzten Male noch für die Gesellschaft vorbereitet. Streng Dich so an, wie Du kannst, das wirst Du nicht verstehn. Ich, ein beliebiger Mann aus der Provinz, den man jeden Augenblick mit einem von jenen austauschen kann, wie sie vor den Bahnhöfen nach bestimmten Zügen zu hunderten beisammenstehn

4. I 11 "Glaube und Heimat" von Schönherr.

Die nassen Finger der Galeriebesucher unter mir, die sich die Augen wischen.

6 I 11

"Du" sagte ich, zielte und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie, jetzt geh ich aber. Wenn Du es mitansehn willst, mach die Augen auf

Also doch? fragte er, wobei er mich aus vollständig offenen Augen mit einem geraden Blick ansah der aber dennoch so schwach war, daß ich ihn mit einem Wehen des Armes hätte abwehren können. Du gehst also doch. Was soll ich machen? Halten kann ich Dich nicht. Und wenn ich es könnte, so will ich es nicht. Damit will ich Dich nur über Dein Gefühl aufklären, nach welchem Du doch von mir zurückgehalten werden könntest. Und sofort setzte er das Gesicht der niedrigen Dienstboten auf, mit dem diese innerhalb eines sonst geregelten Staates die herrschaftlichen Kinder folgsam oder ängstlich machen dürfen

7. I 11 Maxens Schwester, die in ihren Bräutigam so verliebt ist, daß sie es so einzurichten sucht, mit jedem Besucher einzeln zu reden, da man sich dem Einzelnen gegenüber besser über seine Liebe aussprechen und wiederholen kann

7 I 11 Wie durch Zauberei, denn weder äußere noch innere Umstände, die jetzt freundlicher sind als seit einem Jahr hinderten mich, wurde ich während des ganzen freien Tags, es ist ein Sonntag vom Schreiben abgehalten. – Einige neue Erkenntnisse über das Unglückswesen, das ich bin, sind mir tröstend aufgegangen.

Du sagte ich, zielte und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie, mach die Augen auf, ich will mich verabschieden. Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund.

Also doch sagte er und sah mich mit einem mehrmals über mein Gesicht hinfahrenden Blick an, der mich aber nur zufällig zu treffen schien, da ich ihn mit einem Wehen des Armes hätte abwehren können.

12. I 11 Ich habe vieles in diesen Tagen über mich nicht aufgeschrieben, teils aus Faulheit (ich schlafe jetzt so viel und fest bei Tag, ich habe während des Schlafes ein größeres Gewicht) teils aber auch aus Angst, meine Selbsterkenntnis zu verraten. Diese Angst ist berechtigt, denn endgiltig durch Aufschreiben fixiert, dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht – und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig – dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloß allgemein Gefühlte nur in der Weise, daß das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird.

Vor paar Tagen Leonie Frippon Kabaretteuse Stadt Wien. Frisur umbundener Lockenhaufen. Schlechtes Mieder, sehr altes Kleid (Ritterdame), aber sehr hübsch mit tragischen Bewegungen, Anstrengungen der Augenlider, Ausfällen der langen Beine, gut verstandenem Strecken der Arme den Leib entlang, Bedeutung des steifen Halses bei zweideutigen Stellen. Gesungen: Knopfsammlung im Louvre.

Schiller von Schadow 1804 in Berlin, wo er sehr geehrt worden war, gezeichnet. Fester als bei dieser Nase kann man ein Gesicht nicht fassen. Die Nasenmittelwand ist ein wenig herabgezogen infolge der Gewohnheit bei der Arbeit an der Nase zu zupfen. Ein freundlicher etwas hohlwangiger Mensch, den das rasierte Gesicht wahrscheinlich greisenhaft gemacht hat.

14 I 11

Roman "Eheleute" von Beradt. Viel schlechtes jüdisches. Ein plötzliches einförmiges neckisches Auftreten des Autors z. B. alle waren lustig, aber einer war da, der war nicht lustig oder da kommt ein Herr Stern (den wir bis in seine Romanknochen hinein schon kennen). Auch bei Hamsun gibt es ähnliches, aber dort ist es so natürlich wie die Knoten in Holz, hier aber tropft es in die Handlung wie eine Modemedizin auf Zucker. – An sonderbaren Wendungen wird grundlos festgehalten z. B. er war um ihre Haare bemüht, bemüht und wieder bemüht. – Einzelne Menschen sind, ohne in ein neues Licht gebracht zu werden, gut herausgebracht, so gut, daß selbst streckenweise Fehler nicht schaden. Nebenpersonen meist trostlos.

17 I 11 Max hat mir den ersten Akt des "Abschiedes von der Jugend" vorgelesen. Wie kann ich so, wie ich heute bin, diesem beikommen; ein Jahr müßte ich suchen, ehe ich ein wahres Gefühl in mir fände und soll im Kaffeehaus spät am Abend von verlaufenen Winden einer trotz allem schlechten Verdauung geplagt einem so großen Werk gegenüber irgendwie berechtigt auf meinem Sessel sitzen bleiben dürfen.

19 I 11

Ich werde, da ich von Grund aus fertig zu sein scheine – im letzten Jahr bin ich nicht mehr als 5 Minuten lang aufgewacht – jeden Tag entweder mich von der Erde wegwünschen müssen oder aber, ohne daß ich darin auch die mäßigste Hoffnung sehen dürfte, von vorn als kleines Kind anfangen müssen. Ich werde es hiebei äußerlich leichter haben als damals. Denn in jenen Zeiten strebte ich noch kaum mit matter Ahnung zu einer Darstellung, die von Wort zu Wort mit meinem Leben verbunden wäre, die ich an meine Brust ziehen und die mich von meinem Platz hinreißen sollte. Mit welchem Jammer (dem gegenwärtigen allerdings unvergleichbar) habe ich angefangen! Welche Kälte verfolgte mich aus dem Geschriebenen tagelang! Wie groß war die Gefahr und wie wenig unterbrochen wirkte sie, daß ich jene Kälte gar nicht fühlte, was freilich mein Unglück im Ganzen nicht viel kleiner machte.

Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb. Ich fieng nur hie und da Zeilen zu schreiben an, denn es ermüdete mich gleich. So schrieb ich einmal auch an einem Sonntagnachmittag, als wir bei den Großeltern zu Besuch waren und ein dort immer übliches besonders weiches Brot mit Butter bestrichen aufgegessen hatten, etwas über mein Gefängnis auf. Es ist schon möglich, daß ich es zum größten Teil aus Eitelkeit machte und durch Verschieben des Papiers auf dem Tischtuch, Klopfen mit dem Bleistift, Herumschauen in der Runde unter der Lampe durch jemanden verlocken wollte, das Geschriebene mir wegzunehmen, es anzuschauen und mich zu bewundern. In den paar Zeilen war in der Hauptsache der Korridor des Gefängnisses beschrieben, vor allem seine Stille und Kälte; über den zurückbleibenden Bruder war auch ein mitleidiges Wort gesagt, weil es der gute Bruder war. Vielleicht hatte ich ein augenblicksweises Gefühl für die Wertlosigkeit meiner Schilderung, nur habe ich vor jenem Nachmittag auf solche Gefühle nie viel geachtet, wenn ich unter den Verwandten, an die ich gewöhnt war (meine Ängstlichkeit war so groß, daß sie mich im Gewohnten schon halb glücklich machte) um den runden Tisch im bekannten Zimmer saß und nicht vergessen konnte, daß ich jung und aus dieser gegenwärtigen Ungestörtheit zu großem berufen war. Ein Onkel der gern auslachte nahm mir endlich das Blatt, das ich nur schwach hielt, sah es kurz an, reichte es mir wieder sogar ohne zu lachen und sagte nur zu den andern, die ihn mit den Augen verfolgten "Das gewöhnliche Zeug", zu mir sagte er nichts. Ich blieb zwar sitzen und beugte mich wie früher über mein also unbrauchbares Blatt, aber aus der Gesellschaft war ich tatsächlich mit einem Stoß vertrieben, das Urteil des Onkels wiederholte sich in mir mit schon fast wirklicher Bedeutung und ich bekam selbst innerhalb des Familiengefühls einen Einblick in den kalten Raum unserer Welt, den ich mit einem Feuer erwärmen mußte, das ich erst suchen wollte

20. II 11

Mella Mars in der "Lucerna". Eine witzige Tragödin, die gewissermaßen auf einer verkehrten Bühne so auftritt, wie sich Tragödinnen manchmal hinter der Szene zeigen. Beim Auftreten hat sie ein müdes, allerdings auch flaches leeres altes Gesicht, wie dies für alle bewußten Schauspieler ein natürlicher Anlauf ist. Sie spricht sehr scharf auch ihre Bewegungen sind so von dem durchgebogenen Daumen angefangen, der statt der Knochen harte Sehnen zu haben scheint. Besondere Wandlungsfähigkeit ihrer Nase durch die wechselnden Lichter und Vertiefungen der ringsherum spielenden Muskeln. Trotz der ewigen Blitze ihrer Bewegungen und Worte pointiert sie zart.

Kleine Städte haben auch kleine Umgebungen für den Spaziergänger.

Die jungen reinen gut gekleideten Jungen neben mir im Promenoir erinnerten mich an meine Jugend und machten daher einen unappetitlichen Eindruck auf mich.

Kleist Jugendbriefe 22 Jahre alt. Gibt den Soldatenstand auf. Zuhause fragt man: Also welche Brodwissenschaft, denn die hielt man für selbstverständlich. Du hast die Wahl zwischen Jurisprudenz u. Kameralwissenschaft. Aber hast Du auch Konnexionen bei Hofe?" Ich verneinte anfänglich etwas verlegen, aber erklärte darauf umso viel stolzer, daß ich wenn ich auch Konnexionen hätte, mich nach meinen jetzigen Begriffen schämen müßte, darauf zu rechnen. Man lächelte, ich fühlte, daß ich mich übereilt hatte. Solche Wahrheiten muß man sich hüten auszusprechen"

21. II 11 Mein Leben hier ist so, als wäre ich eines zweiten Lebens ganz gewiß, so wie ich z. B. den mißlungenen Aufenthalt in Paris im Hinblick darauf verschmerzte, daß ich danach streben werde bald wieder hinzukommen. Hiebei der Anblick der scharf getrennten Licht- und Schattenpartien auf dem Gassenpflaster.

Einen Augenblick fühlte ich mich umpanzert.

Wie fern sind mir z. B. die Armmuskeln.

Marc Henry – Delvard. Das durch den leeren Saal erzeugte tragische Gefühl im Zuschauer begünstigt die Wirkung ernster Lieder, schadet den lustigen. – Henry prologiert, unterdes die Delvard hinter einem Vorhang, der, was sie nicht weiß durchscheinend ist sich die Haare ordnet. – Wetzler der Veranstalter scheint bei schlechtbesuchten Veranstaltungen seinen assyrischen Bart, der sonst tiefschwarz ist, graumeliert zu tragen. – Gut sich von so einem Temperament anblasen zu lassen, das hält für 24 Stunden, nein nicht solange. – Viel Kleideraufwand, bretonische Kostüme, der unterste Unterrock ist der längste, so daß man den Reichtum von der Ferne zählen kann. – Zuerst begleitet die Delvard, weil man einen Begleiter sparen wollte, in einem weiten ausgeschnittenen grünen Kleid und friert. – Pariser Straßenrufe. Zeitungsausträger sind ausgelassen. – Jemand spricht mich an, ehe ich aufatme bin ich verabschiedet. – Delvard ist lächerlich, sie hat das Lächeln alter Jungfern, eine alte Jungfer des deutschen Kabarets, mit einem roten Shawl, den sie sich hinter dem Vorhang holt, macht sie Revolution, Gedichte von Dauthendey mit der gleichen zähen nicht zu zerhackenden Stimme. Nur wie sie frauenhaft anfangs am Klavier saß, war sie lieb. – Bei dem Lied "a Batignolles" spürte ich Paris im Hals. Batignolles soll rentnerhaft sein, auch seine Apachen. Bruant hat jedem Quartier sein Lied gemacht.

Die städtische Welt.

Oskar M. ein älterer Student – wenn man ihn nahe ansah, erschrak man vor seinen Augen – blieb an einem Winternachmittag mitten im Schneefall auf einem leeren Platze stehn in seinen Winterkleidern mit dem Winterrock darüber einem Shawl um den Hals und einer Fellmütze auf dem Kopf. Er zwinkerte mit den Augen vor Nachdenken. So sehr hatte er sich in Gedanken verlassen, daß er einmal die Mütze abnahm und mit ihrem krausen Fell sich über das Gesicht strich. Endlich schien er zu einem Schluß gekommen und wendete sich mit einer Tanzdrehung zum Heimweg. Als er die Tür des elterlichen Wohnzimmers öffnete, sah er seinen Vater einen glattrasierten Mann mit schwerem Fleischgesicht der Tür zugekehrt an einem leeren Tische sitzen. "Endlich" sagte dieser kaum daß Oskar den Fuß ins Zimmer gesetzt hatte bleib ich bitte Dich bei der Tür, ich habe nämlich eine solche Wut auf Dich, daß ich meiner nicht sicher bin. Aber Vater sagte Oskar und merkte erst beim Reden wie er gelaufen war. Ruhe schrie der Vater und stand auf, wodurch er ein Fenster verdeckte. Ruhe befehle ich. Und Deine Aber laß Dir, verstehst Du. Dabei nahm er den Tisch mit beiden Händen und trug ihn einen Schritt Oskar näher. Dein Lotterleben ertrage ich einfach nicht länger. Ich bin ein alter Mann. In Dir dachte ich einen Trost des Alters zu haben, indessen bist Du für mich ärger als alle meine Krankheiten. Pfui über einen solchen Sohn, der durch Faulheit, Verschwendung, Bosheit, und Dummheit seinen alten Vater ins Grab drängt. Hier verstummte der Vater, bewegte aber sein Gesicht, als rede er noch. Lieber Vater sagte Oskar und gieng vorsichtig dem Tisch zu, beruhige Dich, alles wird gut werden. Ich habe heute einen Einfall gehabt, der mich zu einem tätigen Menschen machen wird, wie Du es Dir nur wünschen kannst. Wie das? fragte der Vater und sah in eine Zimmerecke. Vertraue mir nur, beim Abendessen werde ich Dir alles erklären. In meinem Innern war ich immer ein guter Sohn, nur daß ich es nach außen nicht zeigen konnte, verbitterte mich so, daß ich Dich lieber ärgerte, wenn ich Dich schon nicht erfreuen konnte. Jetzt aber laß mich noch ein wenig spazieren gehn damit sich meine Gedanken klarer entwickeln. Der Vater, der sich zuerst aufmerksam werdend auf den Tischrand gesetzt hatte, stand auf: Ich glaube nicht, daß das, was Du jetzt gesagt hast viel Sinn hat, ich halte es eher für Geschwätz. Aber schließlich bist Du mein Sohn – Komm rechtzeitig wir werden zuhause nachtmahlen und Du kannst Deine Sache dann vortragen. Dieses kleine Vertrauen genügt mir, ich bin Dir dafür vom Herzen dankbar. Aber ist es denn nicht schon an meinen Blicken zu sehn, daß ich mit einer ernsten Sache vollkommen beschäftigt bin? Ich sehe vorläufig nichts sagte der Vater. Aber es kann auch meine Schuld sein, denn ich bin aus der Übung gekommen, Dich überhaupt anzusehn. Dabei machte er, wie es seine Gewohnheit war, durch regelmäßiges Beklopfen der Tischplatte darauf aufmerksam, wie die Zeit vergieng. Die Hauptsache aber ist, daß ich gar kein Vertrauen mehr zu Dir habe Oskar. Wenn ich Dich einmal anschreie – wie Du gekommen bist, habe ich Dich doch angeschrien? nicht wahr? – so tue ich das nicht in der Hoffnung, es könnte Dich bessern, ich tue es nur in Gedanken an Deine arme gute Mutter, die jetzt vielleicht noch kein unmittelbares Leid über Dich verspürt, aber schon an der Anstrengung, ein solches Leid abzuwehren, denn sie glaubt Dir dadurch irgendwie zu helfen, langsam zugrundegeht. Aber schließlich sind das ja Sachen die Du sehr gut weißt und ich hätte schon aus Rücksicht auf mich nicht wieder an sie erinnert, wenn Du mich durch Deine Versprechungen nicht dazu gereizt hättest. Während der letzten Worte trat das Dienstmädchen ein, um nach dem Feuer im Ofen zu sehn. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als Oskar ausrief: Aber Vater! Ich hätte das nicht erwartet. Wenn ich nur einen kleinen Einfall gehabt hätte, sagen wir, einen Einfall zu meiner Dissertation, die ja doch schon 10 Jahre in meinem Kasten liegt und Einfälle braucht wie Salz so ist möglich wenn auch nicht wahrscheinlich, daß ich wie es heute geschehen ist, vom Spaziergang nach Hause gelaufen wäre und gesagt hätte: Vater ich habe glücklicherweise diesen und diesen Einfall. Wenn Du daraufhin mit Deiner ehrwürdigen Stimme die Vorwürfe von vorhin mir ins Gesicht gesagt hättest, dann wäre mein Einfall einfach weggeblasen gewesen und ich hätte sofort mit irgendeiner Entschuldigung oder ohne solche abmarschieren müssen. Jetzt dagegen! Alles was Du gegen mich sagst, hilft meinen Ideen, sie hören nicht auf, stark werdend füllen sie mir den Kopf. Ich werde gehn, weil ich nur im Alleinsein Ordnung in sie bringen kann. Er schluckte an seinem Athem in dem warmen Zimmer. Es kann ja auch eine Lumperei sein, die Du im Kopf hast sagte der Vater mit großen Augen dann glaube ich schon, daß sie Dich festhält. Wenn sich aber etwas Tüchtiges in Dich verirrt hat, entlauft es Dir über Nacht. Ich kenne Dich. Oskar drehte den Kopf, als halte man ihn am Halse. Laß mich jetzt. Du bohrst überflüssiger Weise in mich hinein. Die bloße Möglichkeit, daß Du mein Ende richtig voraussagen kannst, sollte Dich wahrhaftig nicht dazu verlocken, mich in meiner guten Überlegung zu stören. Vielleicht gibt Dir meine Vergangenheit das Recht dazu, aber Du solltest es nicht ausnützen. Da siehst Du am besten, wie groß Deine Unsicherheit sein muß, wenn sie Dich dazu zwingt, so gegen mich zu sprechen. Nichts zwingt mich sagte Oskar und zuckte im Genick. Er trat auch ganz eng an den Tisch heran, so daß man nicht mehr wußte wem er gehörte. Was ich sagte, sagte ich in Ehrfurcht und sogar aus Liebe zu Dir, wie Du später noch sehen wirst, denn an meinen Entschlüssen hat die Rücksichtnahme auf Dich und Mama den größten Anteil. Da muß ich Dir schon jetzt danken sagte der Vater da es ja sehr unwahrscheinlich ist, daß Deine Mutter und ich im rechten Augenblick noch dessen fähig sein werden. Bitte Vater laß doch die Zukunft noch schlafen, wie sie es verdient. Wenn man sie nämlich vorzeitig weckt, bekommt man dann eine verschlafene Gegenwart. Daß Dir das aber erst Dein Sohn sagen muß. Auch wollte ich Dich ja noch nicht überzeugen, sondern Dir nur die Neuigkeit melden. Und das wenigstens ist mir, wie Du selbst zugeben mußt gelungen. Jetzt Oskar wundert mich eigentlich noch eins: warum Du mit einer solchen Sache wie heute nicht schon öfters zu mir gekommen bist. Sie entspricht so Deinem bisherigen Wesen. Nein tatsächlich, es ist mein Ernst.

Ja hättest Du mich dann durchgehaut statt mir zuzuhören. Ich bin hergelaufen, das weiß Gott, um Dir rasch eine Freude zu machen. Verraten kann ich Dir aber nichts solange mein Plan nicht vollständig fertig ist. Warum strafst Du mich also für meine gute Absicht und willst von mir Erklärungen haben, die jetzt noch der Ausführung meines Planes schaden könnten.

Schweig ich will gar nichts wissen. Aber ich muß Dir sehr rasch antworten, weil Du Dich zur Tür zurückziehst und offenbar etwas sehr Dringendes vorhast: Meine erste Wut hast Du mit Deinem Kunststück beruhigt, - nur mir ist jetzt noch trauriger zu Mut als früher und deshalb bitte ich Dich – wenn Du darauf bestehst kann ich auch die Hände falten – sage wenigstens der Mutter nichts von Deinen Ideen. Laß es mit mir genug sein.

Das ist ja nicht mein Vater der so mit mir spricht rief Oskar, der den Arm schon auf die Türklinke gelegt hatte. Es ist seit Mittag etwas mit Dir vorgegangen oder Du bist ein fremder Mensch, dem ich jetzt zum erstenmal im Zimmer meines Vaters begegne. Mein wirklicher Vater – Oskar schwieg einen Augenblick mit offenem Mund – er hätte mich doch umarmen müssen, er hätte die Mutter hergerufen. Was hast Du Vater?

Du solltest lieber mit Deinem wirklichen Vater nachtmahlen, mein ich. Es würde vergnügter zugehn.

Er wird schon kommen. Schließlich kann er nicht ausbleiben. Und die Mutter muß dabei sein. Und Franz den ich jetzt hole. Alle. Darauf drängte Oskar mit der Schulter gegen die leicht aufgehende Türe, als habe er sich vorgenommen, sie einzudrücken.

In Franzens Wohnung angekommen beugte er sich zur kleinen Hauswirtin mit den Worten: Der Herr Ingenieur schläft ich weiß, das macht nichts, und ohne sich um die Frau zu kümmern, die aus Unzufriedenheit mit dem Besuch nutzlos im Vorzimmer auf und ab gieng, öffnete er die Glastür, die als sei sie an einer empfindlichen Stelle gefaßt in seiner Hand erzitterte und rief unbekümmert um das Innere des Zimmers, das er noch kaum sah: Franz, aufstehn. Ich brauch Deinen fachmännischen Rat. Aber hier im Zimmer halte ich es nicht aus, wir müssen ein bischen spazierengehn, Du mußt auch bei uns nachtmahlen. Also rasch. Sehr gern sagte der Ingenieur von seinem Lederkanapee her aber was zuerst aufstehn nachtmahlen spazierengehn, Ratgeber Einiges werde ich auch überhört haben. Vor allem keine Witze machen Franz. Das ist das Wichtigste, das habe ich vergessen. Den Gefallen mach ich Dir sofort. Aber das Aufstehn – Ich würde lieber zweimal für Dich nachtmahlen als einmal aufstehn. Also jetzt auf! Keine Widerrede. Oskar faßte den schwachen Menschen vorn beim Rock und setzte ihn auf. Du bist aber rabiat weißt Du. Alle Achtung. Er wischte sich mit beiden kleinen Fingern die geschlossenen Augen aus. Sag. Hab ich dich schon einmal so vom Kanape gerissen. Aber Franz sagte Oskar mit verzogenem Gesicht zieh Dich schon an. Ich bin doch kein Narr, daß ich Dich ohne Grund geweckt hätte. – Ebenso habe ich auch nicht ohne Grund geschlafen. Ich habe gestern Nachtdienst gehabt, dann bin ich heute schon um meinen Mittagsschlaf gekommen, auch Deinetwegen – Wieso? Ach was, es ärgert mich schon, wie wenig Rücksicht Du auf mich nimmst. Es ist nicht das erste Mal. Natürlich Du bist ein freier Student und kannst machen was Du willst. Jeder ist nicht so glücklich. Da muß man doch Rücksichten nehmen, zum Kuckuck. Ich bin zwar Dein Freund, aber deshalb hat man mir noch meinen Beruf nicht abgenommen. – Er zeigte das durch Hin- und Herschütteln der flachen Hände. Muß ich aber nach Deinem jetzigen Mundwerk nicht glauben, daß Du mehr als genug ausgeschlafen bist sagte Oskar der sich auf einen Bettpfosten hinaufgezogen hatte von wo er den Ingenieur ansah als habe er schon etwas mehr Zeit wie früher. Also was willst Du eigentlich von mir? oder besser gesagt warum hast Du mich geweckt fragte der Ingenieur und rieb sich stark den Hals unter seinem Ziegenbart in dieser nähern Beziehung, die man nach dem Schlaf zu seinem Körper hat. Was ich von Dir will sagte Oskar leise und gab dem Bett einen Stoß mit dem Fußabsatz. Sehr wenig. Ich habe es Dir doch schon aus dem Vorzimmer gesagt: daß Du Dich anziehst. Wenn Du damit Oskar andeuten willst, daß mich Deine Neuigkeit sehr wenig interessiert, so hast Du ganz recht. Das ist ja gut, so wird das Feuer, in das sie Dich setzen wird, ganz auf ihre eigene Rechnung gehn, ohne daß sich unsere Freundschaft eingemischt hätte. Die Auskunft wird auch klarer sein, ich brauche klare Auskunft, das halte Dir vor Augen. Wenn Du aber vielleicht Kragen und Kravatte suchst, sie liegen dort auf dem Sessel. Danke sagte der Ingenieur, und fieng an Kragen u. Kravatte zu befestigen auf Dich kann man sich halt doch verlassen.

26 III 11

Teosophische Vorträge des Dr. Rudolf Steiner Berlin. Retorische Wirkung: Behagliche Besprechung der Einwände der Gegner, der Zuhörer staunt über diese starke Gegnerschaft, weitere Ausführung und Belobung dieser Einwände, der Zuhörer geräth in Sorge, völlige Versenkung in diese Einwände als gebe es sonst nichts, der Zuhörer hält jetzt eine Widerlegung überhaupt für unmöglich und ist mit einer flüchtigen Beschreibung der Verteidigungsmöglichkeit mehr als zufriedengestellt.

Dieser rhetorische Effekt entspricht übrigens der Vorschrift der devotionellen Stimmung. – Dauerndes Anschauen der Fläche der vorgehaltenen Hand. – Auslassen des Schlußpunktes. Im allgemeinen fängt der gesprochene Satz mit seinem großen Anfangsbuchstaben beim Redner an, biegt sich in seinem Verlaufe so weit er kann zu den Zuhörern hinaus und kehrt mit dem Schlußpunkt zu dem Redner zurück. Wird aber der Punkt ausgelassen, dann weht der nicht mehr gehaltene Satz unmittelbar mit ganzem Atem den Zuhörer an.

früher Vortrag Loos und Kraus.

Wir sind jetzt fast gewöhnt, in westeuropäischen Erzählungen, sobald sie nur einige Gruppen von Juden umfassen wollen, unter oder über der Darstellung gleich auch die Lösung der Judenfrage zu suchen und zu finden. In den Jüdinnen nun wird eine solche Lösung nicht gezeigt ja nicht einmal vermuthet, denn gerade jene Personen, die sich mit solchen Fragen beschäftigen stehen in der Erzählung weiter vom Mittelpunkt ab, dort wo die Ereignisse sich schon rascher drehn, so daß wir sie zwar noch genau beobachten können, aber keine Gelegenheit mehr finden, um von ihnen eine ruhige Auskunft über ihre Bestrebungen zu erhalten. Kurz entschlossen erkennen wir darin einen Mangel der Erzählung und fühlen uns zu einer solchen Ausstellung umso mehr berechtigt, als heute seit dem Dasein des Zionismus die Lösungsmöglichkeiten so klar um das jüdische Problem herum angeordnet sind, daß der Schriftsteller schließlich nur einige Schritte hätte machen müssen, um die seiner Erzählung gemäße Lösungsmöglichkeit zu finden.

Dieser Mangel entspringt aber noch einem andern. Den Jüdinnen fehlen die nichtjüdischen Zuschauer, die angesehenen gegensätzlichen Menschen, die in andern Erzählungen das Jüdische herauslocken, daß es gegen sie vordringt, in Verwunderung, Zweifel, Neid Schrecken und endlich, endlich in Selbstvertrauen versetzt wird, jedenfalls sich aber erst ihnen gegenüber in seiner ganzen Länge aufrichten kann. Das eben verlangen wir, eine andere Auflösung von Judenmassen erkennen wir nicht an. Auch berufen wir uns auf dieses Gefühl nicht nur in diesem Fall, es ist in einer Richtung wenigstens allgemein. So freut uns auch auf einem Fußweg in Italien das Aufzucken der Eidechsen vor unsern Schritten ungemein immerfort möchten wir uns bücken, sehn wir sie aber bei einem Händler zu Hunderten in den großen Flaschen durcheinanderkriechen in denen man sonst Gurken einzulegen pflegt so wissen wir uns nicht einzurichten

Beide Mängel vereinigen sich zu einem dritten. Die "Jüdinnen" können jenen vordersten Jüngling entbehren, der sonst innerhalb seiner Erzählung die besten zu sich reißt und in schöner radialer Richtung an die Grenzen des jüdischen Kreises führt. Das eben will uns nicht eingehn, daß diesen Jüngling die Erzählung entbehren kann, hier ahnen wir einen Fehler mehr, als daß wir ihn sehn.

Du hast heute Geburtstag, aber ich schicke Dir nicht einmal das gewöhnliche Buch, denn es wäre nur Schein; im Grunde bin ich doch nicht einmal im Stande Dir ein Buch zu schenken. Nur weil ich es so nötig habe, heute einen Augenblick und sei es nur mit dieser Karte in Deiner Nähe zu sein, schreibe ich und habe mit der Klage deshalb angefangen, damit Du mich gleich erkennst.

Wir sind jetzt fast gewöhnt, in westeuropäischen Erzählungen, sobald sie nur einige Gruppen von Juden umfassen wollen, irgendwo unter oder über der Darstellung gleich auch die Lösung der Judenfrage zu suchen und zu finden. In den "Jüdinnen" aber wird eine solche Lösung nicht gezeigt, ja nicht einmal vermuthet, denn gerade jene Personen, die sich mit solchen Fragen befassen stehen in der Erzählung weiter vom Mittelpunkt ab, dort wo die Ereignisse sich schon rascher drehn, so daß wir sie zwar noch genau beobachten können, aber keine Gelegenheit mehr finden, um von ihnen eine ruhige Auskunft über ihre Bestrebungen zu erhalten. Kurz entschlossen erkennen wir darin einen Mangel der Erzählung und fühlen uns zu einer solchen Ausstellung umso mehr berechtigt, als heute seit dem Dasein des Zionismus die Lösungsmöglichkeiten so klar um das jüdische Problem herum angeordnet liegen, daß der Schriftsteller schließlich nur einige Schritte hätte machen müssen, um die seiner Erzählung gemäße Lösungsmöglichkeit zu finden.

Dieser Mangel entspringt wenn man genauer zusieht einem früheren. Den Jüdinnen fehlen

Es war schon eine Gewohnheit der vier Freunde Robert Samuel, Max und Franz geworden jeden Sommer oder Herbst ihre kleinen Ferien zu einer gemeinsamen Reise zu verwenden. Während des übrigen Jahres bestand ihre Freundschaft meist darin, daß sie gerne an einem Abend in der Woche alle vier zusammenkamen meist bei Samuel der als der wohlhabendste ein größeres Zimmer hatte, einander verschiedenes erzählten und dazu mäßig Bier tranken. Mit dem Erzählen waren sie um Mitternacht, wenn sie auseinandergiengen niemals fertig, da Robert Sekretär eines Vereins war, Samuel Angestellter eines kommerciellen Bureaus, Max Staatsbeamter und Franz' Beamter in einem Bankgeschäft, so daß fast alles, was einer während der Woche in seinem Berufe erlebt hatte, den drei andern unbekannt und ihnen rasch erzählt sondern ohne umständliche Erklärung auch unverständlich war. Vor allem aber brachte es die Verschiedenheit dieser Berufe mit sich, daß jeder gezwungen war seinen Beruf den andern immer wieder darzustellen, denn diese Darstellungen wurden von den andern weil sie doch nur schwache Menschen waren nicht genug gründlich aufgefaßt gerade deshalb aber und auch aus guter Freundschaft immer wieder verlangt. Weibergeschichten wurden dagegen selten vorgenommen, denn wenn auch Samuel für seine Person an ihnen Geschmack gefunden hätte, so hütete er sich, zu verlangen, daß sich die Unterhaltung nach seinen Bedürfnissen einrichte, wobei ihm öfters das alte Mädchen, welches das Bier holte, als eine Mahnung erschien. Gelacht wurde aber so viel an diesen Abenden, daß Max auf dem Nachhauseweg sagte, dieses ewige Lachen sei eigentlich bedauerlich, weil man dadurch an alle ernsten Sachen vergesse, von denen doch jeder gerade genug zu tragen hätte. Während man lache denke man für den Ernst sei noch Zeit genug. Das sei aber nicht richtig, denn der Ernst stelle natürlich größere Ansprüche an den Menschen und es sei doch klar, daß man in Gesellschaft der Freunde auch größeren Ansprüchen zu genügen fähig sei als allein. Lachen solle man im Bureau, weil man dort nicht mehr zustandebringe. Diese Meinung war gegen Robert gerichtet, der in seinem in dem alten durch ihn sich verjüngenden Kunstverein viel arbeitete und gleichzeitig die komischesten Dinge bemerkte, mit denen er seine Freunde unterhielt.

Schon wenn er anfieng verließen die Freunde ihre Plätze, stellten sich zu ihm oder setzten sich auf den Tisch und lachten besonders Max und Franz so selbstvergessen, daß Samuel alle Gläser auf ein Seitentischchen hinübertrug. War man vom Erzählen ermüdet setzte sich Max mit plötzlich neuer Kraft zum Klavier und spielte, während Robert und Samuel ihm zur Seite auf dem Bänkchen saßen, Franz dagegen der nichts von Musik verstand, allein am Tisch Samuels Ansichtskartensammlung durchsah oder die Zeitung las. Wenn die Abende wärmer wurden und das Fenster schon offen bleiben konnte, kamen wohl alle vier zum Fenster und sahen die Hände auf dem Rücken in die Gasse hinunter ohne sich von dem freilich schwachen Verkehr in ihrer Unterhaltung beirren zu lassen. Nur hie und da gieng einer zum Tisch zurück, um einen Schluck zu machen, oder zeigte auf die Lockenfrisuren zweier Mädchen, die unten vor ihrer Weinstube saßen oder auf den Mond, der sie leicht überraschte oder Max beschrieb das, was er erzählte, mit ausgespannten Fingern draußen in der Luft über die Schulter des andern weg, bis endlich Franz sagte, es sei kühl, man solle das Fenster schließen. Im Sommer trafen sie einander manchmal in einem öffentlichen Garten, setzten sich an einen Tisch ganz am Rande, wo es dunkler war, tranken einander zu und merkten im Gespräch die Köpfe beisammen das ferne Blasorchester kaum. Arm in Arm, in gleichem Schritt giengen sie dann durch die Anlagen nach Hause. Die zwei am Rande drehten die Stöckchen oder schlugen in die Gebüsche, Robert [Man denkt man beschreibt ihn richtig, aber es ist nur angenähert und wird vom Tagebuch korrigiert.] forderte sie zum Singen auf, sang dann aber allein gut für vier, der zweite in der Mitte fühlte sich dabei besonders sicher aufgehoben. An einem solchen Abend sagte Franz und drückte seine zwei Nachbarn näher an sich, es wäre doch so schön, beisammen zu sein, daß er nicht verstehen könne, warum sie nur einmal in der Woche zusammenkommen, während es doch sicher leicht einzurichten wäre, wenn nicht öfters, so wenigstens zweimal wöchentlich einander zu sehn warum nicht lieber zweimal. Alle waren dafür, selbst der vierte der von außen her Franzens leises Sprechen nur undeutlich verstanden hatte. Ein solches Vergnügen sei sicher die kleine Mühe wert, die es hie und da einem machen würde. Franz schien es als bekomme er zur Strafe dafür daß er ungebeten für alle rede, eine hohle Stimme. Aber er ließ nicht ab. Und wenn einer einmal wirklich nicht kommen könne, so sei es eben sein Schade und er könne nächstens getröstet werden, aber müßten deshalb die andern auf einander verzichten, seien nicht drei für einander genug und wenn es sein muß auch zwei. Natürlich, natürlich sagten alle. Am Rande löste sich Samuel los und gieng knapp vor den 3 andern, weil sie so einander näher waren. Dann aber schien es ihm wieder nicht so und er hieng sich lieber ein. Robert machte einen Vorschlag: Wir kommen jede Woche zusammen und lernen italiänisch. Italiänisch zu lernen sind wir entschlossen denn schon voriges Jahr haben wir in dem kleinen Stückchen Italien, wo wir waren, gesehn, daß unser Italienisch nur dazu ausreicht, nach dem Weg zu fragen, wenn wir uns ihr erinnert Euch zwischen den Weingartenmauern der Campagna verirrt hatten. Und selbst dazu hat es doch nur unter großer Anstrengung der Gefragten ausgereicht. Lernen müssen wir also wenn wir heuer wieder nach Italien wollen. Da hilft nichts. Und ist es da nicht das Beste zusammen zu lernen? Nein sagte Max wir werden zusammen nichts erlernen. Das weiß ich ebenso bestimmt, wie daß Du Sam für das gemeinsame Lernen bist. Und ob sagte Samuel. Wir werden sicher sehr gut zusammen lernen, ich bedauere es nur immer, daß wir nicht schon auf der Schule beisammen waren. Wißt Ihr eigentlich, daß wir einander erst 2 Jahre lang kennen. Er beugte sich vor, um alle 3 zu sehn. Sie hatten ihren Schritt verlangsamt und die Arme gelockert. Erlernt haben wir aber zusammen noch nichts sagte Franz. Mir gefällt es ja sehr gut so. Ich will gar nichts lernen. Wenn wir aber Italienisch lernen müssen, dann ist es besser jeder lernt es für sich. Das versteh ich nicht sagte Samuel. Zuerst willst Du daß wir jede Woche zusammenkommen, dann willst Du es wieder nicht. "Aber geh sagte Max, ich und Franz wollen doch nur, daß unser Zusammensein durch das Lernen und unser Lernen nicht durch das Zusammensein gestört wird sonst nichts. " No ja sagte Franz. Es ist ja auch nicht mehr viel Zeit sagte Max jetzt ist Juni und im September wollen wir fahren. Deshalb will ich gerade daß wir zusammen lernen sagte Robert und machte große Augen auf die zwei die gegen ihn waren. Besonders sein Hals wurde gelenkig, wenn man ihm widersprach.

Es liegt wahrscheinlich im Wesen der Freundschaft und folgt ihr schattengleich – einer wird es begrüßen, der andere bedauern, der dritte gar nicht merken

[Hier: Fortsetzung aus dem 6ten Heft:]

dem Schubal etwas vorzuwerfen war, so war es der Umstand, daß er die Widerspenstigkeit des Heizers im Laufe der Zeiten nicht so weit hatte brechen können, daß es dieser heute noch gewagt hatte vor dem Kapitän zu erscheinen.

Nun konnte man ja vielleicht noch annehmen die Gegenüberstellung des Heizers und Schubals werde die ihr vor einem höhern Forum zukommende Wirkung auch vor den Menschen nicht verfehlen, denn wenn sich auch Schubal gut verstellen konnte, er mußte es doch durchaus nicht bis zum Ende aushalten können. Ein kurzes Aufblitzen seiner Schlechtigkeit sollte genügen, um sie den Herren sichtbar zu machen, dafür wollte Karl schon sorgen. Er kannte doch schon beiläufig den Scharfsinn, die Schwächen, die Launen der einzelnen Herren und unter diesem Gesichtpunkt war die bisher hier verbrachte Zeit nicht verloren. Wenn nur der Heizer besser auf dem Platze gewesen wäre, aber der schien vollständig kampfunfähig. Wenn man ihm den Schubal hingehalten hätte, hätte er wohl dessen gehaßten Schädel mit den Fäusten aufklopfen können, wie eine dünnschalige Nuß. Aber schon die paar Schritte zu ihm hinzugehn, war er wohl kaum imstande. Warum hatte denn Karl das so leicht vorauszusehende, nicht vorausgesehn, daß Schubal endlich kommen müsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb, so vom Kapitän gerufen. Warum hatte er auf dem Herweg mit dem Heizer nicht einen genauen Kriegsplan besprochen, statt wie sie es in Wirklichkeit getan hatten heillos unvorbereitet einfach dort einzutreten, wo eine Türe war? Konnte der Heizer überhaupt noch reden, ja und nein sagen, wie es bei dem Kreuzverhör, das allerdings nur im günstigsten Fall bevorstand nötig sein würde. Er stand da, die Beine auseinandergestellt, die Knie ein wenig gebogen, den Kopf etwas gehoben und die Luft verkehrte durch den offenen Mund als gebe es innen keine Lungen mehr, die sie verarbeiteten

Karl allerdings fühlte sich so kräftig und bei Verstand, wie er es vielleicht zu hause niemals gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wie er im fremden Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht und wenn er es auch noch nicht zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung sich vollkommen bereit stellte. Würden sie ihre Meinung über ihn revidieren? Ihn zwischen sich niedersetzen und loben? Ihm einmal einmal in die ihnen so ergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und ungeeignetester Augenblick sie zu stellen!

"Ich komme, weil ich glaube, daß mich der Heizer irgendwelcher Unredlichkeiten beschuldigt. Ein Mädchen aus der Küche sagte mir, sie hätte ihn auf dem Wege hierher gesehen. Herr Kapitän und sie alle meine Herren, ich bin bereit, jede Beschuldigung an der Hand meiner Schriften, nötigenfalls durch Aussagen unvoreingenommener und unbeeinflußter Zeugen, die vor der Türe stehn, zu widerlegen." So sprach Schubal. Das war allerdings die klare Rede eines Mannes und nach der Veränderung in den Mienen der Zuhörer hätte man glauben können, sie hörten zum erstenmal nach langer Zeit wieder menschliche Laute. Sie bemerkten freilich nicht, daß selbst diese schöne Rede Löcher hatte. Warum war das erste sachliche Wort das ihm einfiel "Unredlichkeiten"? Hätte vielleicht die Beschuldigung hier einsetzen müssen, statt bei seinen nationalen Voreingenommenheiten? Ein Mädchen aus der Küche hatte den Heizer auf dem Weg ins Bureau gesehn und Schubal hatte sofort begriffen? War es nicht das Schuldbewußtsein, das ihm den Verstand schärfte Und Zeugen hatte er gleich mitgebracht und nannte sie noch außerdem unvoreingenommen und unbeeinflußt? Gaunerei nichts als Gaunerei und die Herren duldeten das und anerkannten es noch als richtiges Benehmen? Warum hatte er zweifellos sehr viel Zeit zwischen der Meldung des Küchenmädchens und seiner Ankunft hier verstreichen lassen, doch zu keinem andern Zwecke als damit der Heizer die Herren so ermüde, daß sie allmählich ihre klare Urteilskraft verloren hätten, welche Schubal vor allem zu fürchten hatte? Hatte er der sicher schon lange hinter der Tür gestanden war nicht erst in dem Augenblick geklopft, als er infolge der nebensächlichen Frage jenes Herren hoffen durfte, der Heizer sei erledigt?

Alles war klar und wurde ja auch von Schubal wider Willen so dargeboten, aber den Herren mußte man es anders, noch handgreiflicher sagen. Sie brauchten Aufrüttelung. Also Karl, rasch, nütze jetzt wenigstens die Zeit aus, ehe die Zeugen auftreten und alles überschwemmen.

Eben aber winkte der Kapitän dem Schubal ab, der daraufhin sofort – denn seine Angelegenheit schien für ein Weilchen verschoben worden zu sein – bei seite trat und mit dem Diener, der sich ihm gleich angeschlossen hatte, eine leise Unterhaltung begann, bei der es an Seitenblicken nach dem Heizer und Karl sowie an den überzeugtesten Handbewegungen nicht fehlte. Schubal schien so seine nächste große Rede einzuüben.

"Wollten Sie nicht, den jungen Mann hier etwas fragen, Herr Jakob?" sagte der Kapitän unter allgemeiner Stille zu dem Herrn mit dem Bambusstöckchen.

"Allerdings" sagte dieser mit einer kleinen Neigung für die Aufmerksamkeit dankend. Und fragte dann Karl nochmals: "Wie heißen Sie eigentlich?"

Karl, welcher glaubte, es sei im Interesse der großen Hauptsache gelegen, wenn dieser Zwischenfall des hartnäckigen Fragers bald erledigt würde, antwortete kurz, ohne wie es seine Gewohnheit war, durch Vorlage des Passes sich vorzustellen, den er erst hätte suchen müssen: "Karl Roßmann. "

"Aber" sagte der mit Jakob angesprochene und trat zuerst fast ungläubig lächelnd zurück. Auch der Kapitän, der Oberkassier, der Schiffsofficier ja sogar der Diener zeigten deutlich ein übermäßiges Erstaunen wegen Karls Namen. Nur die Herren von der Hafenbehörde und Schubal verhielten sich gleichgültig.

"Aber" wiederholte der Herr Jakob und trat mit etwas steifen Schritten auf Karl zu, dann bin ich ja Dein Onkel Jakob und Du bist mein lieber Neffe. Ahnte ich es doch die ganze Zeit über sagte er zum Kapitän hin, ehe er Karl umarmte und küßte, der alles stumm geschehen ließ.

Wie heißen Sie? fragte Karl nachdem er sich losgelass. fühlte zwar sehr höflich aber gänzlich ungerührt und strengte sich an, die Folgen abzusehn, welche dieses neue Ereignis für den Heizer haben könne. Vorläufig deutete nichts daraufhin, daß Schubal aus dieser Sache Nutzen ziehen könnte.

Begreifen Sie doch junger Mann ihr Glück sagte der Kapitän, der durch die Frage die Würde der Person des Herrn Jakob verletzt glaubte, der sich zum Fenster gestellt hatte, offenbar um sein aufgeregtes Gesicht, das er überdies mit einem Taschentuch betupfte, den andern nicht zeigen zu müssen. Es ist der Staatsrat Edward Jakob, der sich ihnen als ihr Onkel zu erkennen gegeben hat. Es erwartet sie nunmehr, doch wohl ganz gegen ihre bisherigen Erwartungen eine glänzende Laufbahn. Versuchen Sie das einzusehn, so gut es im ersten Augenblick geht und fassen sie sich.

Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika sagte Karl zum Kapitän gewendet, aber wenn ich recht verstanden habe, lautet bloß der Zuname des Herrn Staatsrat, Jakob"

So ist es sagte der Kapitän erwartungsvoll.

Nun mein Onkel Jakob, welcher der Bruder meiner Mutter ist, heißt aber mit dem Taufnamen Jakob während sein Zuname, natürlich gleich jenem meiner Mutter lauten müßte, welche eine geborene Bendelmayer ist.

"Meine Herren! " rief der Staatsrat, der von seinem Erholungsposten beim Fenster munter zurückkehrte, mit Bezug auf Karls Erklärung aus. Alle mit Ausnahme der Hafenbeamten brachen in Lachen aus, manche wie in Rührung, manche undurchdringlich.

So lächerlich war das was ich gesagt habe doch keineswegs dachte Karl.

"Meine Herren" wiederholte der Staatsrat Sie nehmen gegen meinen und gegen ihren Willen an einer kleinen Familienscene teil und ich kann deshalb nicht umhin, ihnen eine Erläuterung zu geben, da wie ich glaube nur der Herr Kapitän (diese Erwähnung hatte eine gegenseitige Verbeugung zur Folge) vollständig unterrichtet ist.

Jetzt muß ich aber wirklich auf jedes Wort achtgeben sagte sich Karl und freute sich als er bei einem Seitwärtsschauen bemerkte, daß in die Figur des Heizers das Leben zurückzukehren begann.

Ich lebe seit allen den langen Jahren meines amerikanischen Aufenthaltes – das Wort Aufenthalt paßt hier allerdings schlecht für den amerikanischen Bürger der ich mit ganzer Seele bin – seit allen den langen Jahren lebe ich also von meinen europäischen Verwandten vollständig abgetrennt, aus Gründen die erstens nicht hierhergehören und die zweitens zu erzählen mich wirklich zu sehr hernehmen würde. Ich fürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich gezwungen sein werde, sie meinem lieben Neffen zu erzählen, wobei sich leider ein offenes Wort über seine Eltern und ihren Anhang nicht vermeiden lassen wird.

"Er ist mein Onkel kein Zweifel" sagte sich Karl und lauschte. "Wahrscheinlich hat er seinen Namen ändern lassen."

"Mein lieber Neffe ist nun von seinen Eltern – sagen wir nur das Wort, das die Sache auch wirklich bezeichnet – einfach beiseitegeschafft worden, wie man eine Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert. Ich will durchaus nicht beschönigen, was mein Neffe gemacht, daß er so gestraft wurde – beschönigen ist nicht amerikanische Art – aber sein Verschulden ist von der Art daß dessen einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält.

"Das läßt sich hören" dachte Karl "aber ich will nicht daß er es allen erzählt. Übrigens kann er es ja auch nicht wissen. Woher denn? Aber wir werden sehn, er wird schon alles wissen. "

"Er wurde nämlich" fuhr der Onkel fort und stützte sich mit kleinen Neigungen auf das vor ihm eingestemmte Bambusstöckchen wodurch es ihm tatsächlich gelang, der Sache einen Teil der unnötigen Feierlichkeit zu nehmen, den sie sonst unbedingt gehabt hätte – er wurde nämlich von einem Dienstmädchen Johanna Brummer, einer etwa 35jährigen Person verführt. Ich will mit dem Worte verführt meinen Neffen durchaus nicht kränken, aber es ist doch schwer, ein anderes gleich passendes Wort zu finden.

Karl der schon ziemlich nahe zum Onkel getreten war, drehte sich hier um, um den Eindruck der Erzählung von den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Keiner lachte, alle hörten geduldig und ernsthaft zu. Schließlich lacht man auch nicht über den Neffen eines Staatsrates bei der ersten Gelegenheit die sich darbietet. Eher hätte man schon sagen können, daß der Heizer wenn auch nur ganz wenig Karl anlächelte, was aber erstens als neues Lebenszeichen erfreulich und zweitens entschuldbar war, da ja Karl in der Kabine aus dieser Sache, die jetzt so publik wurde, ein besonderes Geheimnis hatte machen wollen.

Nun hat diese Brummer setzte der Onkel fort, von meinem Neffen ein Kind bekommen, einen gesunden Jungen, welcher in der Taufe den Namen Jakob erhielt, zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit, welche selbst in den sicher nur ganz nebensächlichen Erwähnungen meines Neffens auf das Mädchen einen großen Eindruck gemacht haben muß. Glücklicherweise sage ich. Denn da die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbst heranreichenden Skandales – ich kenne wie ich betonen muß, weder die dortigen Gesetze noch die sonstigen Verhältnisse der Eltern, sondern weiß nur von zwei Bettelbriefen der Eltern aus früherer Zeit, die ich zwar unbeantwortet gelassen aber aufgehoben habe und welche meine einzige und überdies einseitige briefliche Verbindung mit ihnen in der ganzen Zeit bedeuten – da also die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn meinen lieben Neffen nach Amerika haben transportieren lassen, mit unverantwortlich ungenügender Ausrüstung, wie man sieht – wäre der Junge, wenn man von den gerade noch in Amerika lebendigen Zeichen und Wundern absieht, auf sich allein angewiesen, wohl schon gleich in einem Gäßchen im Hafen von Newyork verkommen, wenn nicht jenes Dienstmädchen in einem an mich gerichteten Brief, der nach langen Irrfahrten vorgestern in meinen Besitz kam, mir die ganze Geschichte, samt Personenbeschreibung meines Neffen und vernünftigerweise auch Namensnennung des Schiffes die Ankunft meines Neffen angezeigt hat. Wenn ich es darauf angelegt hätte, sie meine Herren zu unterhalten, könnte ich wohl einige Stellen jenes Briefes – er zog zwei riesige eng beschriebene Briefbogen aus der Tasche und schwenkte sie – hier vorlesen. Er würde sicher Wirkung machen, da mit einer etwas einfachen wenn auch immer gut gemeinten Schlauheit und mit viel Liebe zu dem Vater ihres Kindes geschrieben ist. Aber ich will weder sie mehr unterhalten, als es zur Aufklärung nötig ist noch vielleicht gar zum Empfang möglicherweise noch bestehende Gefühle meines Neffen verletzen, der den Brief, wenn er mag, in der Stille seines ihn schon erwartenden Zimmers zur Belehrung lesen kann.

Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen. Im Gedränge einer immer mehr zurückgestoßenen Vergangenheit saß sie in ihrer Küche neben dem Küchenschrank, auf dessen Platte sie ihren Elbogen stützte. Sie sah ihn an, wenn er hin und wieder in die Küche kam, um ein Glas zum Wassertrinken für seinen Vater zu holen oder einen Auftrag seiner Mutter auszurichten. Manchmal schrieb sie in der vertrakten Stellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief und holte sich die Eingebungen von Karls Gesicht. Manchmal hielt sie die Augen mit der Hand verdeckt, dann drang keine Anrede zu ihr. Manchmal kniete sie in ihrem engen Zimmerchen neben der Küche und betete zu einem hölzernen Kreuz, Karl beobachtete sie dann nur mit Scheu im Vorübergehn durch die Spalte der ein wenig geöffneten Tür. Manchmal jagte sie in der Küche herum und fuhr wie eine Hexe lachend zurück, wenn Karl ihr in den Weg kam. Manchmal schloß sie die Küchentüre, wenn Karl eingetreten war, und behielt die Klinke solange in der Hand bis er wegzugehn verlängte. Manchmal holte sie Sachen, die er gar nicht haben wollte, und drückte sie ihm schweigend in die Hände. Einmal aber sagte sie "Karl! " und führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sie seinen Hals und während sie ihn bat sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemandem mehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zum Ende der Welt. "Karl, o Du mein Karl" rief sie als sehe sie ihn und bestätige sich seinen Besitz, während er nicht das geringste sah und sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen heraus schüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einigemale gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen. Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in sein Bett. Das war alles gewesen und doch verstand es der Onkel, daraus eine große Geschichte zu machen. Und die Köchin hatte also auch ihn gedacht und den Onkel von seiner Ankunft verständigt. Das war schön von ihr gehandelt und er würde es ihr wohl noch einmal vergelten.

"Und jetzt" rief der Senator will ich von Dir offen hören, ob ich Dein Onkel bin oder nicht.

"Du bist mein Onkel" sagte Karl und küßte ihm die Hand und wurde dafür auf die Stirn geküßt. "Ich bin sehr froh daß ich Dich getroffen habe, aber Du irrst, wenn Du glaubst, daß meine Eltern nur Schlechtes von Dir reden. Aber auch abgesehen davon sind in Deiner Rede einige Fehler enthalten gewesen d. h. ich meine es hat sich in Wirklichkeit nicht alles so zugetragen. Du kannst aber auch wirklich von hier aus die Dinge nicht so gut beurteilen und ich glaube außerdem, daß es keinen besondern Schaden bringen wird, wenn die Herren in Einzelheiten einer Sache, an der ihnen doch wirklich nicht viel liegen kann, ein wenig unrichtig informiert worden sind"

"Wohl gesprochen" sagte der Senator, führte Karl vor den sichtlich teilnehmenden Kapitän und sagte "Habe ich nicht einen prächtigen Neffen? "

"Ich bin glücklich" sagte der Kapitän mit einer Verbeugung wie sie nur militärisch geschulte Leute zu stande bringen "Ihren Neffen, Herr Senator, kennen gelernt zu haben. Es ist eine besondere Ehre für mein Schiff, daß es den Ort eines solchen Zusammentreffens abgeben konnte. Aber die Fahrt im Zwischendeck war wohl sehr arg, ja wer kann das wissen wer da mit geführt wird. Einmal ist z. B. auch der Erstgeborene des obersten ungarischen Magnaten, der Name und der Grund der Reise ist mir schon entfallen, in unserem Zwischendeck gefahren. Ich habe es erst viel später erfahren. Nun wir tun alles mögliche, den Leuten im Zwischendeck die Fahrt möglichst zu erleichtern, viel mehr z. B. als die amerikanischen Linien, aber eine solche Fahrt zu einem Vergnügen zu machen, ist uns allerdings noch immer nicht gelungen. "

"Es hat mir nicht geschadet" sagte Karl.

"Es hat ihm nicht geschadet! " wiederholte laut lachend der Senator.

Nur meinen Koffer fürchte ich verloren zu – Und damit erinnerte er sich an alles, was geschehen war und was noch zu tun übrig blieb sah sich um und erblickte alle Anwesenden stumm vor Achtung und Staunen auf ihren frühernPlätzen die Augen auf ihn gerichtet. Nur den Hafenbeamten sah man, soweit ihre strengen selbstzufriedenen Gesichter einen Einblick gestatteten, das Bedauern an, zu so ungelegener Zeit gekommen zu sein und die Taschenuhr die sie jetzt vor sich liegen hatten, war ihnen wahrscheinlich wichtiger als alles was im Zimmer vorgieng und vielleicht noch geschehen konnte.

Der erste welcher nach dem Kapitän seine Anteilnahme aussprach, war merkwürdigerweise der Heizer. "Ich gratuliere Ihnen herzlich" sagte er und schüttelte Karl die Hand, womit er auch etwas wie Anerkennung ausdrücken wollte. Als er sich dann mit der gleichen Ansprache auch an den Senator wenden wollte, trat dieser jedoch zurück, als überschreite der Heizer damit seine Rechte; der Heizer ließ auch sofort ab.

Die übrigen aber sahen jetzt ein, was zu tun war und bildeten gleich um Karl und den Senator einen Wirrwarr. So geschah es, daß Karl sogar eine Gratulation Schubals erhielt, annahm und für sie dankte. Als letzte traten in der wieder entstandenen Ruhe die Hafenbeamten hinzu und sagten zwei englische Worte, was einen lächerlichen Eindruck machte.

Der Senator war ganz in der Laune, um das Vergnügen vollständig auszukosten, nebensächlichere Momente sich und den andern in Erinnerung zu bringen, was natürlich von allen nicht nur geduldet, sondern mit Interesse hingenommen wurde. So machte er darauf aufmerksam, daß er sich die in dem Brief der Köchin erwähnten hervorstechendsten Erkennungszeichen Karls in sein Notizbuch zu möglicherweise notwendigen augenblicklichen Gebrauch eingetragen hatte. Nun hatte er während des unerträglichen Geschwätzes des Heizers zu keinem andern Zweck, als um sich abzulenken, das Notizbuch herausgezogen und die natürlich nicht gerade detektivisch richtigen Beobachtungen der Köchin mit Karls Aussehn zum Spiel in Verbindung zu bringen gesucht. "Und so findet man seinen Neffen" schloß er in einem Tone, als wolle er noch einmal Gratulationen bekommen.

"Was wird jetzt dem Heizer geschehn?" fragte Karl, vorbei an der letzten Erzählung des Onkels. Er glaubte in seiner neuen Stellung, alles was er dachte auch aussprechen zu können.

"Dem Heizer wird geschehn, was er verdient" sagte der Senator "und was der Herr Kapitän erachtet. Ich glaube wir haben von dem Heizer genug und übergenug, wozu mir jeder der anwesenden Herren sicher zustimmen wird. "

"Darauf kommt es doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit" sagte Karl. Er stand zwischen dem Onkel und dem Kapitän und glaubte vielleicht durch diese Stellung beeinflußt die Entscheidung in der Hand zu haben.

Und trotzdem schien der Heizer nichts mehr für sich zu hoffen. Die Hände hielt er halb in den Hosengürtel, der durch seine aufgeregten Bewegungen mit Streifen eines gemusterten Hemdes zum Vorschein gekommen. Das kümmerte ihn nicht im geringsten, er hatte sein ganzes Leid geklagt, nun sollte man auch noch die paar Fetzen sehn, die er am Leibe trug und dann sollte man ihn forttragen. Er dachte sich aus, der Diener und Schubal als die zwei hier im Range tiefsten sollten ihm diese letzte Güte erweisen. Schubal würde dann Ruhe haben und nicht mehr in Verzweiflung kommen, wie sich der Oberkassier ausgedrückt hatte. Der Kapitän würde lauter Rumänen anstellen können, es würde überall rumänisch gesprochen werden und vielleicht würde dann wirklich alles besser gehn. Kein Heizer würde mehr in der Hauptkassa schwätzen, nur sein letztes Geschwätz würde man in ziemlich freundlicher Erinnerung behalten, da es, wie der Senator ausdrücklich erklärt hatte, die mittelbare Veranlassung zur Erkennung des Neffen gegeben hatte. Dieser Neffe hatte ihm übrigens vorher öfters zu nützen gesucht und daher für seinen Dienst bei der Wiederkennung längst vorher einen mehr als genügenden Dank abgestattet; dem Heizer fiel gar nicht ein, jetzt noch etwas von ihm zu verlangen. Im übrigen mochte er auch der Neffe des Senators sein, ein Kapitän war er noch lange nicht, aber aus dem Munde des Kapitäns würde schließlich das böse Wort fallen. – So wie es seiner Meinung entsprach versuchte auch der Heizer nicht zu Karl hinzusehn, aber leider blieb in diesem Zimmer der Feinde kein anderer Ruheort für seine Augen.

"Mißverstehe die Sachlage nicht" sagte der Senator zu Karl "es handelt sich vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine Sache der Disciplin. Beides und ganz besonders das letztere unterliegt hier der Beurteilung des Herrn Kapitäns. "

"So ist es" murmelte der Heizer. Wer es merkte und verstand, lächelte befremdet.

"Wir aber haben überdies den Herrn Kapitän in seinen Amtsgeschäften, die sich sicher gerade bei der Ankunft in Newyork unglaublich häufen, so sehr schon behindert, daß es höchste Zeit für uns ist, das Schiff zu verlassen, um nicht zum Überfluß auch noch durch irgendwelche höchstunnötige Einmischung diese geringfügige Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen. Ich begreife Deine Handlungsweise lieber Neffe übrigens vollkommen, aber gerade das gibt mir das Recht Dich eilends von hier fortzuführen. "

"Ich werde sofort ein Boot für Sie flott machen lassen" sagte der Kapitän, ohne zum Erstaunen Karls auch nur den kleinsten Einwand gegen die Worte des Onkels vorzubringen, die doch zweifellos als eine Selbstdemütigung des Onkels angesehen werden konnten. Der Oberkassier eilte überstürzt zum Schreibtisch und telephonierte den Befehl des Kapitäns an den Bootsmeister.

"Die Zeit drängt schon" sagte sich Karl, "aber ohne alle zu beleidigen kann ich nichts tun. Ich kann doch jetzt den Onkel nicht verlassen, nachdem er mich kaum wiedergefunden hat. Der Kapitän ist zwar höflich, aber das ist auch alles. Bei der Disciplin hört seine Höflichkeit auf, und der Onkel hat ihm sicher aus der Seele gesprochen. Mit Schubal will ich nicht reden, es tut mir sogar leid, daß ich ihm die Hand gereicht habe. Und alle andern Leute hier sind Spreu. "

Und er gieng langsam in solchen Gedanken zum Heizer, zog dessen rechte Hand aus dem Gürtel und hielt sie spielend in der seinen. "Warum sagst Du denn nichts?" fragte er "Warum läßt Du Dir alles gefallen"

Der Heizer legte nur die Stirn in Falten, als suche er den Ausdruck für das was er zu sagen habe. Im übrigen sah er auf seine und Karls Hand hinab.

"Dir ist ja Unrecht geschehn wie keinem auf dem Schiff, das weiß ich ganz genau. " Und Karl zog seine Finger hin und her zwischen den Fingern des Heizers, der mit glänzenden Augen ringsumher schaute, als widerfahre ihm eine Wonne, die ihm aber niemand verübeln möge.

"Du mußt Dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben ja die Leute keine Ahnung von der Wahrheit. Du mußt mir versprechen, daß Du mir folgen wirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit vielem Grund, werde Dir gar nicht mehr helfen können. " Und nun weinte Karl, während er die Hand des Heizers küßte und nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen, wie einen Schatz, auf den man verzichten muß. – Da war aber auch schon der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichtesten Zwange, fort. "Der Heizer scheint Dich bezaubert zu haben" sagte er und sah verständnisinnig über Karls Kopf zum Kapitän hin "Du hast Dich verlassen gefühlt, da hast Du den Heizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist ja ganz löblich. Treibe das aber, schon mir zuliebe, nicht zu weit und lerne Deine Stellung begreifen. "

Vor der Türe entstand ein Lärmen, man hörte Rufe und es war sogar, als werde jemand brutal gegen die Tür gestoßen. Ein Matrose trat ein, etwas verwildert, und hatte eine Mädchenschürze umgebunden. "Es sind Leute draußen" rief er und stieß einmal mit den Elbogen herum, als sei er noch im Gedränge. Endlich fand er seine Besinnung und wollte vor dem Kapitän salutieren, da bemerkte er die Mädchenschürze, riß sie herunter warf sie zu Boden und rief: "Das ist ja ekelhaft, da haben sie mir eine Mädchenschürze umgebunden. " Dann aber klappte er die Haken zusammen und salutierte. Jemand versuchte zu lachen, aber der Kapitän sagte streng: "Das nenne ich eine gute Laune. Wer ist denn draußen?" "Es sind meine Zeugen" sagte Schubal vortretend "ich bitte ergebenst um Entschuldigung für ihr unpassendes Benehmen. Wenn die Leute die Seefahrt hinter sich haben, sind sie manchmal wie toll." – "Rufen Sie sie sofort herein" befahl der Kapitän und gleich sich zum Senator umwendend sagte er verbindlich, aber rasch: "Haben Sie jetzt die Güte, verehrter Herr Senator mit ihrem Herrn Neffen diesem Matrosen zu folgen, der sie ins Boot bringen wird. Ich muß wohl nicht erst sagen, welches Vergnügen und welche Ehre mir das persönliche Bekanntwerden mit Ihnen, Herr Senator, bereitet hat. Ich wünsche mir nur bald Gelegenheit zu haben, mit Ihnen, Herr Senator wieder einmal unser unterbrochenes Gespräch über die amerikanischen Flottenverhältnisse wiederaufnehmen zu können und dann vielleicht neuerdings auf so angenehme Weise wie heute unterbrochen zu werden." "Vorläufig genügt mir dieser eine Neffe" sagte der Onkel lachend. "Und nun nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit und leben Sie wohl. Es wäre übrigens gar nicht so unmöglich, daß wir" – er drückte Karl herzlich an sich – "bei unserer nächsten Europareise vielleicht für längere Zeit zusammenkommen könnten. " "Es würde mich herzlich freuen" sagte der Kapitän. Die beiden Herren schüttelten einander die Hände, Karl konnte nur noch stumm und flüchtig seine Hand dem Kapitän reichen, denn dieser war bereits von den vielleicht 15 Leuten in Anspruch genommen, welche unter Führung Schubals zwar etwas betroffen aber doch sehr laut einzogen. Der Matrose bat den Senator vorausgehn zu dürfen und teilte dann die Menge für ihn und Karl, die leicht zwischen den sich verbeugenden Leuten durchkamen. Es schien daß diese im übrigen gutmütigen Leute den Streit Schubals mit dem Heizer als einen Spaß auffaßten, dessen Lächerlichkeit nicht einmal vor dem Kapitän aufhöre. Karl bemerkte unter ihnen auch das Küchenmädchen Line, welche, ihm lustig zuzwinkernd, die vom Matrosen hingeworfene Schürze umband, denn es war die ihrige.

Weiter dem Matrosen folgend verließen sie das Bureau, bogen in einen kleinen Gang ein, der sie nach paar Schritten zu einem Türchen brachte, von dem aus eine kurze Treppe in das Boot hinabführte, welches für sie vorbereitet war. Die Matrosen im Boot, in das ihr Führer gleich mit einem einzigen Satz hinuntersprang, erhoben sich und salutierten. Der Senator gab Karl gerade eine Ermahnung zu vorsichtigem Hinuntersteigen, als Karl noch auf der obersten Stufe in heftiges Weinen ausbrach. Der Senator legte die rechte Hand unter Karls Kinn, hielt ihn fest an sich gepreßt und streichelte ihn mit der linken Hand. So giengen sie langsam Stufe für Stufe hinab und traten engverbunden ins Boot, wo der Senator für Karl gerade sich gegenüber einen guten Platz aussuchte. Auf ein Zeichen des Senators stießen die Matrosen vom Schiffe ab und waren gleich in voller Arbeit. Kaum waren sie paar Meter vom Schiff entfernt machte Karl die unerwartete Entdeckung, daß sie sich gerade auf jener Seite des Schiffes befanden, wohin die Fenster der Hauptkassa giengen. Alle 3 Fenster waren mit Zeugen Schubals besetzt, welche freundschaftlich grüßten und winkten, sogar der Onkel dankte und ein Matrose machte das Kunststück, ohne eigentlich das gleichmäßige Rudern zu unterbrechen eine Kußhand hinaufzuschicken. Es war wirklich als gebe es keinen Heizer mehr. Karl faßte den Onkel, mit dessen Knien sich die seinen fast berührten, genauer ins Auge und es kamen ihm Zweifel, ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzen können. Auch wich der Onkel seinem Blicke aus und sah auf die Wellen hin, von denen ihr Boot umschwankt wurde.

Im Hause des Onkels gewöhnte sich Karl bald an die neuen Verhältnisse. Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen und niemals mußte Karl sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland so verbittert.

Karls Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen 5 untere Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch 3 unterirdische anschlossen, von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden. Das Licht, das in sein Zimmer durch 2 Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Karl immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land gestiegen wäre? Ja vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen und es war ganz richtig, was Karl in dieser Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.

Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach hin. Was aber in der Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade und darum wie fliehend in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgen wie abend und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehn sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue vervielfältigte wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.

Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl sich vorläufig ernsthaft nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und wenn man sich hier auch, damit nur Karl keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne als wenn man vom Jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, daß das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und daß man sich dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z. B. statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße heruntergesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen Newyorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos angeraten werden, für einen der hier bleiben wird sei sie ein Verderben, man könne in diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine Übertrei-

[Fortsetzung nicht in diesem Heft]


Revision: 2021/01/09 - 23:40 - © Mauro Nervi




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