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2024/03/28 - 09:50

Heft 4

28. XI 11 3 Tage lang nichts geschrieben.

25. XI (1911) den ganzen Nachmittag im Cafe City

Miska überredet, eine Erklärung zu unterschreiben, daß er nur Commis bei uns war, also nicht versicherungspflichtig und der Vater nicht verpflichtet wäre, die große Nachtragszahlung für seine Versicherung zu leisten. Er verspricht es mir, ich rede ein flüssiges Cechisch, besonders meine Irrtümer entschuldige ich elegant, er verspricht die Erklärung Montag ins Geschäft zu schicken, ich fühle mich von ihm, wenn nicht geliebt, so doch respektiert, aber am Montag schickt er nichts, ist auch nicht mehr in Prag, sondern weggefahren.

Abend matt bei Baum ohne Max.

Vorlesung "der Häßlichen", einer noch zu ungeordneten Geschichte, das erste Kapitel ist mehr der Lagerplatz einer Geschichte.

26. XI (1911) So. Mit Max R. u. S. vormittag u. nachmittag bis 5. Dann zu A. M. Pachinger.

Sammler aus Linz, von Kubin empfohlen, 50 Jahre, riesig, turmartige Bewegungen, wenn er längere Zeit schweigt, beugt man den Kopf, da er ganz schweigt, während er sprechend nicht ganz spricht, sein Leben besteht aus Sammeln und Koitieren. Sammeln: Mit einer Sammlung von Briefmarken fieng er an, gieng dann zur Graphik über, sammelte dann alles, sah dann die Nutzlosigkeit dieser sich niemals abrundenden Sammlung ein und beschränkte sich auf Amulette, später auf Wallfahrtsmedaillen und Wallfahrtsblätter von Niederösterreich und Südbayern. Es sind dies M. und Bl. die separat für jede Wallfahrt neu aufgelegt werden, im Material und auch künstlerisch meist wertlos sind, oft aber gemütliche Darstellungen enthalten. Darüber fieng er nun auch fleißig zu publicieren an undzwar zum erstenmal über diesen Gegenstand, für dessen Systemisierung er erst die Gesichtspunkte feststellte. Natürlich empörten sich die bisherigen Sammler dieser Dinge, die es versäumt hatten zu publicieren, mußten sich dann aber doch zufrieden geben. Jetzt ist er anerkannter Sachverständiger für diese Wallfahrtsmedaillen, aus allen Gegenden kommen Bitten um Bestimmung und Begutachtung dieser Medaillen, seine Stimme gilt. Im übrigen sammelt er auch alles andere noch, sein Stolz ist ein Jungferngürtel (Scapulier?), der wie auch alle seine Amulette auf der Dresdner hygienischen Ausstellung ausgestellt gewesen ist. (Jetzt war er eben dort und hat alles zum Transport verpacken lassen) Dann ein schönes Ritterschwert vom Falkensteiner. Mit einer schlechten nur durch Sammeln erreichbaren Klarheit verhält er sich zur Kunst. Aus dem Kaffeehaus im Hotel Graf führt er uns in sein überheiztes Zimmer hinauf, setzt sich aufs Bett, wir auf 2 Sessel um ihn, so daß wir eine ruhige Versammlung bilden. Seine erste Frage "Sind sie Sammler?" "Nein nur arme Liebhaber." "Das macht nichts." Er zieht seine Brieftasche und bewirft uns förmlich mit Exlibris, eigenen und fremden, untermischt mit einem Prospekt seines nächsten Buches "Zauberei und Aberglaube im Steinreich". Er hat schon viel geschrieben, besonders über "Mutterschaft in der Kunst" den schwangeren Körper hält er für den schönsten, er ist ihm auch am angenehmsten zu vögeln. Auch über Amulette hat er geschrieben. Er war auch in Stellung in den Wiener Hofmuseen, hat Ausgrabungen in Braila an der Donaumündung geleitet, ein nach ihm benanntes Verfahren zum Binden ausgegrabener Vasen erfunden, ist 13faches Mitglied von gelehrten Gesellschaften und Museen, seine Sammlung ist dem Germanischen Museum in Nürnberg vermacht, oft sitzt er bis 1 oder 2 Uhr an seinem Schreibtisch in der Nacht und um h 8 früh wieder. Wir müssen etwas in das Stammbuch einer Freundin eintragen, das er auf die Reise mitgenommen hat, um es füllen zu lassen. Selbstproducierende kommen an den Anfang. Max trägt einen komplicierten Vers ein, den Hr. P. mit dem Sprichwort "auf Regen kommt Sonnenschein" zu übersetzen versucht. Vorher hat er es mit einer hölzernen Stimme vorgelesen. Ich schreibe:

Kleine Seele

springst im Tanze u. s. w.

er liest wieder laut, ich helfe, schließlich sagt er: "Ein persischer Rythmus? Wie heißt das nur? Ghasele? Nicht?" Da können wir nicht zustimmen und was er meint, auch nicht erraten. Endlich zitiert er ein Ritornell von Rückert. Ja also Ritornell hat er gemeint. Das ist es allerdings auch nicht. Gut, aber einen gewissen Wohlklang hat es. Beim Weggehn zerwirft er das Bett, damit es vollständig sich der Zimmerwärme angleiche, außerdem ordnet er weiteres Einheizen an. – Er ist Freund Halbes. Er möchte gern über ihn reden. Wir viel lieber über Blei. Über den ist aber nicht viel zu reden, er wird in den Münchner litterarischen Gesellschaften wegen litt. Schweinereien mißachtet, von seiner Frau, die als Zahnärztin ein besuchtes Atelier hatte und ihn erhielt ist er geschieden, seine Tochter 16 Jahre blond mit blauen Augen ist das wildeste Mädel von München. In Sternheims "Hose" – Pachinger war mit Halbes im Teater – spielte Blei einen alternden Lebemann. Als ihn Pachinger nächsten Tag traf, sagte er "Herr Dr., Sie haben gestern den Dr. Blei gespielt. " Wieso? wieso? sagte er verlegen, ich habe doch den und den gespielt. " – Kubins Eheleben ist schlecht. Seine Frau ist Morphinistin. P. ist überzeugt, daß es Kubin auch ist. Man beobachte ihn nur wie er aus der größten Lebhaftigkeit plötzlich mit spitzer Nase und hängenden Wangen verfällt, geweckt werden muß, sich mit einem Aufraffen wieder ins Gespräch findet, nach einer Pause wieder still wird, was sich dann in immer kürzeren Pausen wiederholt. Auch fehlen ihm oft Worte. – Über Weiber: Die Erzählungen über seine Potenz machen einem Gedanken darüber, wie er wohl sein großes Glied langsam in die Frauen stopft. Sein Kunststück in frühern Zeiten war, Frauen so zu ermüden, daß sie nicht mehr konnten. Dann waren sie ohne Seele, Tiere. Ja diese Ergebenheit kann ich mir vorstellen. Er liebt Rubensweiber wie er sagt, meint aber solche mit großen oben gebauchten unten flachen, sackartig hängenden Brüsten. Er erklärt diese Vorliebe damit, daß seine erste Liebe eine solche Frau, eine Freundin seiner Mutter und Mutter eines Schulkollegen

29. XI (1911)

war, die ihn mit 15 Jahren verführte. Er war besser in Sprachen, sein Kollege in Mathematik, so lernten sie mit einander in der Wohnung des Kollegen, da geschah es. Er zeigt Photographien seiner Lieblinge. Sein gegenwärtiger ist eine ältere Frau, die auf einem Sessel mit gespreizten Beinen, gehobenen Armen, von Fett faltigem Gesicht sitzt und so ihre Fleischmassen zeigt. Auf einem Bilde, das sie im Bett darstellt, sind die Brüste, so wie sie ausgebreitet und geschwollen förmlich geronnen aussehn, und der zum Nabel gehobene Bauch gleichwertige Berge. Ein anderer Liebling ist jung, sein Bild ist nur ein Bild der aus der aufgeknöpften Rlouse gezogenen langen Brüste und eines abseits schauenden in einem schönen Mund zugespitzten Gesichtes. In Braila hatte er damals großen Zulauf der dicken, viel vertragenden, von ihren Männern ausgehungerten Kaufmannsfrauen, die dort zur Sommerfrische lebten. Sehr ergiebiger Fasching in München. Nach dem Meldeamt kommen während des Faschings über 6000 Frauen ohne Begleitung nach München offenbar nur um sich koitieren zu lassen. Es sind Verheirathete, Mädchen, Witwen aus ganz Bayern, aber auch aus den angrenzenden Ländern.

Aus dem Talmud: Geht ein Gelehrter auf Brautschau, so soll er sich einen amhorez mitnehmen, da er zu sehr in seine Gelehrsamkeit versenkt das Notwendige nicht merken würde. – Die Telephon- und Telegraphendrähte um Warschau sind durch Bestechungen zu einem vollkommenen Kreis ergänzt, der im Sinne des Talmud aus der Stadt ein abgegrenztes Gebiet, gewissermaßen einen Hof bildet, so daß es auch dem Frömmsten möglich ist, am Samstag innerhalb dieses Kreises sich zu bewegen, Kleinigkeiten (wie Taschentücher) bei sich zu tragen. – Die Gesellschaften der Chassidim, bei denen sie sich fröhlich über Talmudfragen unterhalten. Stockt die Unterhaltung oder beteiligt sich einer nicht, entschädigt man sich mit Gesang. Melodien werden erfunden, gelingt eine werden Familienglieder hereingerufen und mit ihnen repetiert und studiert. Ein Wunderrabbi, der öfters Hallucinationen hatte, versenkte bei einer solchen Unterhaltung plötzlich sein Gesicht in die auf den Tisch gelegten Arme und verblieb so unter allgemeinem Schweigen 3 Stunden. Als er erwachte weinte er und trug einen ganz neuen lustigen militärischen Marsch vor. Es war dies die Melodie, mit welcher Totenengel eben die Seele eines zu dieser Zeit in einer weit entfernten russischen Stadt verstorbenen Wunderrabbis zum Himmel begleitet hatten. – Nach der Kabbala bekommen am Freitag die Frommen eine neue vollkommen himmlische, zartere Seele, die bis Samstag abend bei ihnen bleibt. – Am Freitag abend begleiten jeden Frommen zwei Engel vom Tempel nachhause; der Hausherr begrüßt sie stehend im Speisezimmer; sie bleiben nur kurze Zeit.

"Die Liebe zu einer Schauspielerin" "Ein Teater"

Immer hatte die Erziehung der Mädchen, ihr Erwachsensein, die Gewöhnung an die Gesetze der Welt einen besonderen Wert für mich. Sie laufen dann einem, der sie nur flüchtig kennt und gern mit ihnen flüchtig reden möchte, nicht mehr so hoffnungslos aus dem Weg, sie bleiben schon ein wenig stehn und sei es auch nicht gerade an der Stelle des Zimmers wo man sie haben will, man muß sie nicht mehr halten mit Blicken, Drohungen oder der Macht der Liebe, wenn sie sich abwenden, tun sie es langsam und wollen damit nicht verwunden, dann ist auch ihr Rücken breiter geworden. Was man ihnen sagt, geht nicht verloren, sie hören die ganze Frage an, ohne daß man sich beeilen müßte und antworten, zwar scherzhaft, jedoch genau auf die gestellte Frage. Ja sie fragen sogar selbst mit erhobenem Gesicht und ein kleines Gespräch ist ihnen nicht unerträglich. Sie lassen sich in der Arbeit, die sie gerade vorgenommen haben, durch einen Zuschauer kaum mehr stören, berücksichtigen ihn also weniger, doch darf er sie auch länger anschauen. Nur zum Ankleiden ziehn sie sich zurück. Es ist die einzige Zeit, während der man unsicher sein kann. Sonst aber muß man nicht mehr durch Gassen laufen, bei Haustoren abfangen und immer wieder auf einen glücklichen Zufall warten, trotzdem man doch schon erfahren hat, daß man die Fähigkeit nicht besitzt ihn zu zwingen. Trotz dieser großen Veränderung aber die mit ihnen vorgegangen ist ist es keine Seltenheit, daß sie bei einer unerwarteten Begegnung mit einer Trauermiene uns entgegenkommen, die Hand flach in die unsere legen und mit langsamen Bewegungen uns wie einen Geschäftsfreund zum Eintritt in die Wohnung laden. Schwer gehn sie im Nebenzimmer auf und ab, wie wir aber auch dort eindringen aus Lüsternheit und Trotz hocken sie in einer Fensternische und lesen die Zeitung ohne einen Blick für uns zu haben.

3 XII 11 Ich habe jetzt ein Stück in Schäfers Karl Stauffers Lebensgang. Eine Chronik der Leidenschaft gelesen und bin von diesem großen in mein nur in Augenblicken erhorchtes Innere dringenden Eindruck so befangen und festgehalten, dabei aber durch das von meinem verdorbenen Magen mir auferlegte Hungern und durch die übliche Aufregung des freien Sonntags so ins Weite getrieben, so daß ich ebenso schreiben muß, wie man sich bei äußerer durch Äußeres erzwungener Aufregung nur durch Fuchteln mit den Armen helfen kann.

Das Unglück des Junggesellen ist für die Umwelt, ob scheinbar oder wirklich, so leicht zu erraten, daß er, jedenfalls, wenn er aus Freude am Geheimnis Junggeselle geworden ist, seinen Entschluß verfluchen wird. Er geht zwar umher mit zugeknöpftem Rock die Hände in den hohen Rocktaschen, die Ellbogen spitz, den Hut tief im Gesicht, ein falsches schon eingeborenes Lächeln soll den Mund schützen, wie der Zwicker die Augen, die Hosen sind schmäler, als es an magern Beinen schön ist. Aber jeder weiß wie es um ihn steht, kann ihm aufzählen was er leidet. Kühle weht ihn aus seinem Innern an, in das er mit der noch traurigern andern Hälfte seines Doppelgesichtes hineinschaut. Er übersiedelt förmlich unaufhörlich, aber mit erwarteter Gesetzmäßigkeit. Je weiter er von den Lebenden wegrückt, für die er doch, und das ist der ärgste Spott, arbeiten muß, wie ein bewußter Sklave der sein Bewußtsein nicht äußern darf, ein desto kleinerer Raum wird für ihn als genügend befunden. Während die andern und seien sie ihr Leben lang auf dem Krankenbett gelegen, dennoch vom Tode niedergeschlagen werden müssen, denn wenn sie auch aus eigener Schwäche längst selbst gefallen wären, so halten sie sich doch an ihre liebenden starken gesunden Ehe-Verwandten, er, dieser Junggeselle bescheidet sich aus scheinbar eigenem Willen schon mitten im Leben auf einen immer kleineren Raum und stirbt er, ist ihm der Sarg gerade recht.

Wie ich letzthin meinen Schwestern die Selbstbiographie Mörikes vorlas, schon gut anfieng aber noch besser fortsetzte und schließlich, die Fingerspitzen auf einander gelegt, mit meiner ruhig bleibenden Stimme innere Hindernisse bezwang, einen immer mehr sich ausbreitenden Ausblick meiner Stimme verschaffte und schließlich das ganze Zimmer rings um mich nichts anderes aufnehmen durfte als meine Stimme. Bis dann meine aus dem Geschäft zurückkehrenden Eltern läuteten.

Vor dem Einschlafen das Gewicht der Fäuste an den leichten Armen auf meinem Leib gespürt.

8 Dec. (1911) Freitag, lange nicht geschrieben, nur war es diesmal doch halbwegs aus Zufriedenheit, da ich das erste Kapitel von R. u. S. selbst beendet habe und besonders die anfängliche Beschreibung des Schlafes im Koupe als gelungen ansehe. Noch mehr, ich glaube, daß sich an mir etwas vollzieht, daß jener Schillerschen Umbildung des Affekts in Charakter sehr nahesteht. Über alles Wehren meines Innern muß ich das Aufschreiben

Spaziergang mit Löwy zum Statthalterschloß, das ich die Zionsburg nannte. Das Maßwerk der Eingangstore und die Himmelsfarbe giengen sehr klar zusammen. – Ein anderer Spaziergang zur Hetzinsel. Erzählung von Frau Tschissik wie man sie aus Mitleid in Berlin in die Gesellschaft aufnahm, eine zuerst wertlose Duettistin in altfränkischem Kleid und Hut. Vorlesen eines Briefes aus Warschau, in dem ein junger Warschauer Jud über den Niedergang des jüdischen Teaters klagt und schreibt, daß er lieber in die "Nowosti" das polnische Operettenteater gehe, als in das jüdische, denn diese elende Ausstattung, die Unanständigkeiten, die "verschimmelten" Couplets u. s. w. seien unerträglich. Man denke nur an den Haupteffekt einer jüdischen Operette, der darin besteht, daß die Primadonna mit einem Zug kleiner Kinder hinter sich durch das Publikum auf die Bühne marschiert. Alle tragen kleine Thorarollen und singen: toire is die beste schoire – die Thora ist die beste Ware.

Schöner einsamer Spaziergang nach jenen gelungenen Stellen in R. u. S. über den Hradschin und das Belvedere. In

der Nerudagasse eine Tafel: Anna Krizova Schneiderin, ausgelernt in Frankreich durch die Herzogin-Witwe Ahrenberg geb. Princess Ahrenberg. – In der Mitte des ersten Schloßhofes stand ich und sah einer Alarmierung der Schloßwache

zu.

Max haben die letzten von mir geschriebenen Partien nicht gefallen, jedenfalls deshalb, weil er sie für das Ganze als nicht passend ansieht, möglicherweise aber auch an und für sich für schlecht hält. Dieses ist sehr wahrscheinlich, weil er mich vor dem Schreiben so langer Stellen warnte und den Effekt solchen Schreibens als etwas Gallertartiges ansieht.

Um mit jungen Mädchen reden zu können, brauche ich das Nahesein älterer Personen. Die von ihnen ausgehende leichte Störung belebt mir das Gespräch, die Forderungen an mich scheinen mir gleich herabgestimmt, was ich nicht überprüft aus mir heraussage, kann immer noch, wenn es für das Mädchen nicht gilt, für die ältere Person angebracht sein, aus der ich auch wenn es notwendig wird, Hilfe in Menge herausholen kann.

Frl. Haas. Sie erinnert mich an Frau Blei, nur ihre Nase sieht in ihrer Länge, leichten Doppelbiegung und verhältnismäßigen Schmalheit wie die verdorbene Nase der Frau Blei aus. Sonst aber hat auch sie im Gesicht eine äußerlich kaum begründete Schwärze, die nur von einem kräftigen Charakter in die Haut getrieben sein kann. Breiter Rücken, weit vorgeschrittene Anlage zu dem schwellenden Frauenrücken; schwerer Körper, der dann in der gut geschnittenen Jacke dünn wird und für den noch diese schmale Jacke lose ist. Nach Verlegenheiten im Gespräch bedeutet ein freies Heben des Kopfes, daß ein Ausweg gefunden ist. Ich lag ja nicht auf dem Boden in diesem Gespräch, hatte mich auch innerlich nicht aufgegeben, aber hätte ich mich nur von außen gesehn, hätte ich mein Benehmen nicht anders erklären können. Zu einer freien Aussprache mit neuen Bekanntschaften konnte ich früher deshalb nicht kommen, weil mich unbewußt das Vorhandensein sexueller Wünsche hinderte, jetzt hindert mich ihr bewußter Mangel.

Begegnung des Ehepaares Tschissik auf dem Graben. Sie trug ihr Dirnenkleid aus dem "Wilden Menschen". Wenn ich ihre Erscheinung wie ich sie damals auf dem Graben hatte in die Details zerlege, wird sie unwahrscheinlich. (Ich sah sie nur flüchtig, denn ich erschrak bei ihrem Anblick, grüßte nicht, wurde auch nicht gesehn und wagte nicht gleich, mich umzudrehn.) Sie war viel kleiner als sonst, hatte die linke Hüfte nicht augenblicksweise, sondern ständig vorstehn, ihr rechtes Bein war eingeknickt, die Bewegung des Halses und Kopfes, die sie ihrem Mann näherte, war sehr eilig, mit dem zur Seite gestreckten eingebogenen rechten Arm suchte sie sich in ihren Mann einzuhängen. Der trug sein Sommerhütchen mit der vorn niedergedrückten Krempe. Als ich mich umdrehte waren sie weg. Ich errieth, daß sie ins Kafe Central gegangen waren, wartete ein wenig auf der anderen Grabenseite und hatte das Glück nach einer langen Weile sie zum Fenster treten zu sehen. Als sie sich zum Tische setzte, sah man nur den Rand ihres mit blauem Sammt überzogenen Pappendeckelhutes. – Im Traum war ich dann in einem sehr schmalen auch nicht übermäßig hohen, glasüberwölbten Durchhaus, ähnlich den ungangbaren Kommunikationen auf primitiven italienischen Bildern, von der Ferne auch einem Durchhaus ähnlich, das wir in Paris gesehen haben, als eine Abzweigung der rue des Petits Champs. Nur war jenes in Paris doch breiter und mit Geschäften angefüllt, dieses aber lief zwischen leeren Wänden hin, ließ im Anblick kaum für zwei nebeneinandergehende Personen Platz, gieng man aber wirklich darin, wie ich mit Frau Tschissik dann war überraschend viel Platz, ohne daß es uns überraschte. Während ich mit Frau T. zu dem einen Ausgang hingieng, in der Richtung zu einem möglichen Beobachter des Ganzen, und Fr. Tschissik sich wegen irgend eines Vergehn (es schien Trunksucht zu sein) gleichzeitig entschuldigte und mich bat ihren Verläumdern nicht zu glauben, peitschte Herr T. am anderen Ende des Durchhauses einen zottigen blonden Bernhardiner, der ihm gegenüber auf den Hinterbeinen stand. Es war nicht ganz deutlich, ob T. mit dem Hund nur spaßte und über ihm seine Frau vernachlässigte oder ob er ernstlich selbst von dem Hund angegriffen war oder ob er schließlich den Hund von uns abhalten wollte.

Mit L. auf dem Quai. Ich hatte einen leichten mein ganzes Wesen unterdrückenden Ohnmachtsanfall, verwand ihn und erinnerte mich nach einer kleinen Weile an ihn, wie an etwas längst Vergessenes.

Selbst wenn ich von allen sonstigen Hindernissen (körperlicher Zustand, Eltern, Charakter) absehe, erziele ich eine sehr gute Entschuldigung dafür, daß ich mich nicht trotz allem auf die Litteratur einschränke, durch folgende Zweiteilung: Ich kann solange nichts für mich wagen, solange ich keine größere, mich vollständig befriedigende Arbeit zustande gebracht habe. Das ist allerdings unwiderleglich.

Ich habe jetzt und hatte schon Nachmittag ein großes Verlangen, meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein oder es so niederzuschreiben daß ich das Geschriebene vollständig in mich einbeziehen könnte. Das ist kein künstlerisches Verlangen. Als heute Löwy von seiner Unzufriedenheit sprach und von seiner Gleichgültigkeit allem gegenüber was die Truppe tut, legte ich seinem Zustand als Erklärung laut Heimweh unter, gab ihm aber gewissermaßen diese Erklärung nicht hin trotzdem ich sie ausgesprochen hatte, sondern behielt sie für mich und genoß sie vorübergehend für meine eigene Traurigkeit.

9 Dec. (1911) Stauffer-Bern: "Die Süßigkeit der Produktion täuscht über ihren absoluten Wert hinweg"

Wenn man über einem Buch mit Briefen oder Memoiren, gleichgültig von was für einem Menschen diesmal von Karl Stauffer-Bern, still hält, nicht aus eigener Kraft ihn in sich zieht, denn dazu gehört schon Kunst und die beglückt sich selbst, sondern hingegeben, – wer nur nicht Widerstand leistet, dem geschieht es bald – von dem gesammelten fremden Menschen sich wegziehn und zu seinem Verwandten sich machen läßt, dann ist es nichts Besonderes mehr, wenn man durch Zuschlagen des Buches wieder auf sich selbst gebracht, nach diesem Ausflug und dieser Erholung sich in seinem neu erkannten, neu geschüttelten, einen Augenblick lang von der Ferne aus betrachteten eigenen Wesen wieder wohler fühlt und mit freierem Kopfe zurückbleibt.

10 Dec. (1911) So. Ich muß meine Schwester besuchen gehn und ihren kleinen Jungen. Als vorgestern die Mutter um 1 Uhr in der Nacht von meiner Schwester zurückkam mit der Nachricht von der Geburt des Jungen, zog mein Vater im Nachthemd durch die Wohnung, öffnete alle Zimmer, weckte mich das Dienstmädchen und die Schwestern und verkündete die Geburt in einer Weise, als sei das Kind nicht nur geboren worden, sondern als habe es auch bereits ein ehrenvolles Leben geführt und sein Begräbnis gehabt.

Später erst kann es uns wundern, daß jene fremden Lebensverhältnisse trotz ihrer Lebhaftigkeit unveränderlich in dem Buch beschrieben sind, obwohl wir nach unserer Erfahrung zu wissen glauben, daß von einem Erlebnis wie es z. B. die Trauer über den Tod eines Freundes ist, nichts auf der Welt weiter absteht, als die Beschreibung dieses Erlebnisses. Was aber für unsere Person recht ist, ist es nicht für die fremde. Wenn wir nämlich mit unseren Briefen dem eigenen Gefühle nicht genügen können – natürlich gibt es hier eine beiderseits verschwimmende Menge von Abstufungen, – wenn uns selbst in unserm besten Zustand immer wieder Ausdrücke behilflich sein müssen, wie "unbeschreiblich", "unsagbar" oder ein "so traurig" oder so schön dem dann ein rasch abbröckelnder "daß"-Satz folgt, so ist uns wie zum Lohn dafür die Fähigkeit gegeben, fremde Berichte mit der ruhigen Genauigkeit aufzufassen, die uns dem eigenen Briefschreiben gegenüber zumindest in diesem Maße fehlt. Die Unkenntnis, in der wir uns über jene Gefühle befinden, welche den vorliegenden Briefe je nachdem einmal gespannt oder zerknittert haben, gerade diese Unkenntnis wird Verstand, da wir gezwungen sind, an den hier liegenden Brief uns zu halten, nur das zu glauben, was darin steht, dieses also vollkommen ausgedrückt zu finden und von einem vollkommenen Ausdruck wie es nur gerecht ist den Weg ins Menschlichste hinein offen zu sehn. So enthalten z. B. Karl Stauffers Briefe nur den Bericht über das kurze Leben eines Künstlers

13. XII 11 Aus Müdigkeit nicht geschrieben und abwechselnd auf dem Kanapee im warmen und im kalten Zimmer gelegen mit kranken Beinen und ekelhaften Träumen. Ein Hund lag mir auf dem Leib, eine Pfote nahe beim Gesicht, ich erwachte davon, aber hatte noch ein Weilchen Furcht, die Augen aufzumachen und ihn anzusehn.

Biberpelz. Lückenhaftes, ohne Steigerung abflauendes Stück. Falsche Scenen des Amtsvorstehers. Zartes Spiel der Lehmann vom Lessingteater. Einlegen des Rockes zwischen die Schenkel wenn sie sich bückt. Der nachdenkliche Blick des Volkes, Heben beider Handflächen, die links vor dem Gesicht unter einandergereiht werden, wie um die Macht der leugnenden oder beteuernden Stimme freiwillig zu schwächen. Unberatenes grobes Spiel der andern. Frechheiten des Komikers gegen das Stück (zieht seinen alten Säbel, verwechselt die Hüte) Meine kalte Unlust. Nachhausegegangen, aber auch schon dort gesessen mit der bewundernden Vorstellung, daß soviel Menschen für einen Abend soviel Aufregung auf sich nehmen (man schreit, stiehlt, wird bestohlen, belästigt, beklatscht, vernachlässigt) und daß in diesem Stück, wenn man es nur mit blinzelnden Augen ansieht, soviel ungeordnete Menschenstimmen und Ausrufe zusammengeworfen sind. Schöne Mädchen. Eine mit glattem Gesicht, ununterbrochenen Hautflächen, Wangenrundung, hoch oben ansetzendem Haar, in dieser Glätte verlassenen und etwas aufquellenden Augen. – Schöne Stellen des Stückes, in denen sich die Wulffen gleichzeitig als Diebin und als ehrliche Freundin der klugen, fortschrittlichen, demokratischen Menschen zeigt. Ein Wehrhahn als Zuhörer müßte sich eigentlich bestätigt fühlen. – Trauriger Parallelismus der 4 Akte. Im ersten Akt wird gestohlen, im 2ten ist das Gericht, ebenso im 3tten und 4. Akt –

"Der Schneider als Gemeinderat" bei den Juden. Ohne die Tschissiks, aber mit zwei neuen, dem Ehepaar Liebegold, fürchterlichen Menschen. Schlechtes Stück von Richter. Der Anfang molierisch der protzige mit Uhren behängte Gemeinderat. – Die Liebgold kann nicht lesen, ihr Mann muß mit ihr studieren. – Es ist fast Sitte, daß ein Komiker eine Ernste und ein Ernster eine Lustige heiratet und daß überhaupt nur verheiratete oder verwandte Frauenzimmer mitgenommen werden. – Wie einmal um Mitternacht der Klavierspieler wahrscheinlich ein Junggeselle, mit seinen Noten sich durch die Tür hinausdrückte.

Brahmskoncert des Singvereins. Das Wesentliche meiner Unmusikalität ist, daß ich Musik nicht zusammenhängend genießen kann, nur hie und da entsteht eine Wirkung in mir und wie selten ist die eine musikalische. Die gehörte Musik zieht natürlich eine Mauer um mich und meine einzige dauernde musikalische Beeinflussung ist die, daß ich so eingesperrt, anders bin als frei. – Solche Ehrerbietung wie vor der Musik gibt es im Publikum vor der Litteratur nicht. Die singenden Mädchen. Vielen war der Mund nur von der Melodie offengehalten. Einer mit schwerfälligem Körper flog Hals und Kopf beim Gesang. – Drei Geistliche in einer Loge. Der Mittlere mit rotem Käppchen hört mit Ruhe und Würde zu, unberührt und schwer, aber nicht steif; der rechts ist zusammengesunken mit spitzigem, starren faltigem Gesicht; der links dick hat sein Gesicht schief auf die halb geöffnete Faust gesetzt. – Gespielt. Tragische Ouverture. (Ich höre nur langsame feierliche einmal hier einmal dort ausgeführte Schritte. Lehrreich ist es, den Übergang der Musik zwischen den einzelnen Spielergruppen zu beobachten und mit dem Ohr nachzuprüfen. Die Zerstörung in der Frisur des Dirigenten).

Beherzigung von Goethe, Nänie von Schiller Gesang der Parzen, Triumpflied – Die singenden Frauen die oben an der niedrigen Balustrade standen, wie auf einer frühitalienischen Architektur.

Sicher ist, daß ich, trotzdem ich eine ziemliche Zeit in oft über mir zusammenschlagender Litteratur gestanden bin,

seit drei Tagen abgesehn vom allgemeinen Glücksverlangen kein ursprüngliches Verlangen nach Litteratur fühle. Ebenso hielt ich Löwy vorige Woche für meinen unentbehrlichen Freund und entbehrte ihn jetzt drei Tage leicht.

Ich ziehe, wenn ich nach längerer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an

14. XII (1911) Mein Vater machte mir Mittag Vorwürfe, weil ich mich nicht um die Fabrik kümmere. Ich erklärte, ich hätte mich beteiligt, weil ich Gewinn erwartete, mitarbeiten könne ich aber nicht, solange ich im Bureau sei. Der Vater zankte weiter, ich stand beim Fenster und schwieg. Abend aber ertappte ich mich bei dem von jenem Mittagsgespräch ausgehenden Gedanken, daß ich mich mit meiner gegenwärtigen Stellung sehr zufrieden geben könne und mich nur hüten müsse, die ganze Zeit für die Litteratur freizubekommen. Kaum hatte ich diesen Gedanken näherer Beobachtung ausgesetzt, war er auch nicht mehr erstaunlich und kam mir schon gewohnt vor. Ich sprach mir die Fähigkeit ab, die ganze Zeit für die Litteratur ausnützen zu können. Diese Überzeugung kam allerdings nur aus einem Augenblickszustand, aber sie war stärker als dieser. Auch an Max dachte ich wie an einen Fremden, trotzdem er heute in Berlin einen aufregenden Vorlese- und Vorspielabend hat; jetzt fällt mir ein, daß ich an ihn nur dachte, als ich der Wohnung des Frl. Taussig mich beim Abendspaziergang näherte

Spaziergang mit Löwy unten am Fluß. Der eine Pfeiler des auf der Elisabethbrücke sich erhebenden innen von einer elektr. Lampe beleuchteten Bogens sah als dunkle Masse zwischen seitlich hervorströmendem Licht wie ein Fabrikskamin aus und der über ihm zum Himmel sich ausspannende dunkle Schattenkeil war wie steigender Rauch. Die scharf begrenzten grünen Lichtflächen zur Seite der Brücke.

Wie mir während des Vorlesens von Beethoven und das Liebespaar von W. Schäfer verschiedene mit der vorgelesenen Geschichte gar nicht zusammenhängende Gedanken (ans Nachtmahl, an den wartenden Löwy) mit großer Deutlichkeit durch den Kopf giengen, ohne mich in dem gerade heute sehr reinen Vorlesen zu stören.

16. (17.) XII (1911) So. 12 Uhr mittag. Den Vormittag vertrödelt mit Schlafen und Zeitunglesen. Angst eine Kritik für das Prager Tagblatt fertigzustellen. Solche Angst vor dem Schreiben äußert sich immer darin, daß ich gelegentlich ohne beim Schreibtisch zu sein, Eingangssätze des zu Schreibenden erfinde, die sich gleich als unbrauchbar, trocken, weit vor dem Ende abgebrochen herausstellen und mit ihren vorragenden Bruchstellen in eine traurige Zukunft zeigen.

Die alten Künste auf dem Christmarkt. Zwei Kakadus auf einer Querstange ziehn Planeten. Irrtümer. Ein Mädchen bekommt eine Geliebte prophezeit. – Ein Mann bietet künstliche Blumen mit Versen zum Verkaufe an: To jest ruze udelana z kuze.

Der junge Pipes beim Gesang. Als einziges Geberdenspiel wird der r. Unterarm im Gelenk hin und her gekegelt, die halbgeöffnete Hand öffnet sich noch etwas weiter und zieht sich dann wieder zusammen. Der Schweiß bedeckt ihm das Gesicht, besonders die Oberlippe wie mit Glassplittern. Flüchtig ist ein knopfloses Plastron hinter die Weste des Schlußrockes gesteckt. – Der warme Schatten im weichen Rot der Mundhöhle der singenden Frau Klug.

Judengassen in Paris rue Rosier Abzweigung der rue de Rivoli

Wird eine ungeordnete Bildung, die in sich nur den notdürftigsten zum bloßen, unsichern Dasein unentbehrlichen Zusammenhang hat, plötzlich zu einem zeitlich eingeschränkten, daher notwendig energischem Arbeiten, zum Sichentwickeln, zum Reden aufgefordert, so erfolgt nur eine bittere Antwort, in der sich Hochmut wegen des Erreichten, das nur mit allen ungeübten Kräften ertragen werden kann, ein kleiner Rückblick auf das überrascht entfliehende Wissen, das deshalb besonders leicht beweglich ist, weil es mehr geahnt, als seßhaft war und endlich Haß und Bewunderung der Umgebung mischen.

Vor dem Einschlafen hatte ich gestern die zeichnerische Vorstellung einer für sich bergähnlich in der Luft abgesonderten Menschengruppe, die mir in ihrer zeichnerischen Technik vollständig neu und einmal erfunden leicht ausführbar schien. Um einen Tisch war eine Gesellschaft versammelt, der Erdboden verlief etwas weiter als der Menschenkreis, von allen Leuten aber sah ich vorläufig mit einer großen Gewalt des Blickes nur einen jungen Mann in altertümlichem Kleid. Den linken Arm hatte er auf dem Tisch aufgestützt, die Hand hieng lose über seinem Gesicht, das spielerisch zu jemandem aufschaute, der sich besorgt oder fragend über ihn bückte. Sein Körper besonders das rechte Bein war mit nachlässiger Jugendlichkeit gestreckt, er lag mehr als er saß. Die zwei deutlichen Linienpaare, welche die Beine begrenzten, kreuzten und verbanden sich leicht zu den Grenzlinien des Körpers. Mit schwacher Körperlichkeit wölbten sich zwischen diesen Linien die bleich gefärbten Kleider. Vor Erstaunen über diese schöne Zeichnung die mir im Kopfe eine Spannung erzeugte, die meiner Überzeugung nach dieselbe undzwar dauernde Spannung war, von der, wann ich wollte, der Bleistift in der Hand geführt werden könnte, zwang ich mich aus dem dämmernden Zustand heraus, um die Zeichnung besser durchdenken zu können. Da fand sich allerdings bald, daß ich mir nichts anderes vorgestellt hatte, als eine kleine Gruppe aus grauweißem Porcellan.

In Übergangszeiten, wie es für mich die letzte Woche und zumindest noch dieser Augenblick ist, erfaßt mich oft ein trauriges aber ruhiges Erstaunen über meine Gefühllosigkeit. Ich bin von allen Dingen durch einen hohlen Raum getrennt, an dessen Begrenzung ich mich nicht einmal dränge.

Jetzt am Abend, wo mir die Gedanken freier zu werden anfangen und ich vielleicht zu einigem fähig wäre, muß ich ins Nationalteater zu "Hippodamie", Uraufführung von Vrchlicky.

Sicher ist, daß mir der Sonntag niemals mehr nützen kann, als der Wochentag, da er durch seine besondere Einteilung alle meine Gewohnheiten durcheinanderwirft und ich die überschüssige freie Zeit nötig habe, um mich in diesem besondern Tag halbwegs einzurichten.

Meinem Verlangen eine Selbstbiographie zu schreiben, würde ich jedenfalls in dem Augenblick, der mich vom Bureau befreite, sofort nachkommen. Eine solche einschneidende Änderung müßte ich beim Beginn des Schreibens als vorläufiges Ziel vor mir haben, um die Masse der Geschehnisse lenken zu können. Eine andere erhebende Änderung aber als diese, die selbst so schrecklich unwahrscheinlich ist, kann ich nicht absehn. Dann aber wäre das Schreiben der Selbstbiographie eine große Freude, da es so leicht vor sich gienge, wie die Niederschrift von Träumen und doch ein ganz anderes, großes, mich für immer beeinflussendes Ergebnis hätte, das auch dem Verständnis und Gefühl eines jeden andern zugänglich wäre.

18. XII 11 Vorgestern Hippodamie. Elendes Stück. Ein Herumirren in der griechischen Mythologie ohne Sinn und Grund. Aufsatz Kvapils auf dem Teaterzettel, der zwischen den Zeilen die während der ganzen Aufführung sichtbare Ansicht ausspricht, daß eine gute Regie (die hier aber nichts als Nachahmung Reinhardts war) eine schlechte Dichtung zu einem großen teatralischem Werk machen könne. Traurig muß das alles für einen nur etwas herumgekommenen Tschechen sein. – Der Statthalter, der aus seinem geöffneten Logentürchen in der Pause aus dem Gange Luft schnappte. – Die als Schattenbild citierte Erscheinung der toten Axiocha, die bald verschwindet, weil sie als eine erst vor Kurzem Verstorbene beim Anblick der Welt zu sehr ihr altes Menschenleid wieder empfindet.

Max kam gestern aus Berlin. Im Berliner Tagblatt wurde er allerdings von einem Fackelmenschen selbstlos genannt, weil er den "weit bedeutenderen Werfel" vorgelesen hatte. Max mußte diesen Satz ausstreichen ehe er die Kritik zum Abdruck ins Prager Tagblatt trug. Ich hasse W., nicht weil ich ihn beneide, aber ich beneide ihn auch. Er ist gesund, jung und reich, ich in allem anders. Außerdem hat er früh und leicht mit musikalischem Sinn sehr Gutes geschrieben, das glücklichste Leben hat er hinter sich und vor sich, ich arbeite mit Gewichten, die ich nicht loswerden kann und von Musik bin ich ganz abgetrennt.

Ich bin unpünktlich, weil ich die Schmerzen des Wartens nicht fühle. Ich warte wie ein Rind. Fühle ich nämlich einen wenn auch sehr unsichern Zweck meiner augenblicklichen Existenz bin ich in meiner Schwäche so eitel, daß ich um dieses einmal vorgesetzten Zweckes halber alles gern ertrage. Wenn ich verliebt wäre, was könnte ich da tun. Wie lange wartete ich vor Jahren unter den Lauben auf dem Ring, bis die M. vorüberkam und wenn sie auch nur mit ihrem Liebhaber vorübergieng. Ich habe teils aus Nachlässigkeit, teils aus Unkenntnis der Schmerzen des Wartens die Zeit verabredeter Zusammenkünfte versäumt, teils aber auch um neue kompliciertere Zwecke des erneuten unsichern Aufsuchens jener Personen, mit denen ich mich verabredet hatte, also auch die Möglichkeit langen unsichern Wartens zu erreichen. Schon daraus, daß ich als Kind eine große nervöse Angst vor dem Warten hatte, könnte man schließen, daß ich zu etwas Besserem bestimmt gewesen bin, daß ich aber meine Zukunft geahnt habe.

Meine guten Zustände haben nicht Zeit und Erlaubnis, sich natürlich auszuleben; meine schlechten dagegen haben mehr davon, als sie verlangen. Nun leide ich an einem solchen Zustand, wie ich nach dem Tagebuch berechnen kann, seit dem 9., fast 10 Tage. Gestern legte ich mich wieder einmal mit feurigem Kopf ins Bett und wollte mich schon freuen, daß die schlechte Zeit vorüber sei, und mich schon fürchten, daß ich schlecht schlafen werde. Es gieng aber vorüber, ich schlief ziemlich gut und wache schlecht.

19. XII (1911) Gestern "Dawids Geige" von Lateiner. Der verstoßene Bruder, ein künstlerischer Geiger, kommt wie in den Träumen meiner ersten Gymnasialzeit reichgeworden zurück, versucht aber zuerst im Bettlerkleid, die Füße mit Packhadern wie ein Schneeschaufier umbunden, seine niemals aus der Heimat gekommenen Verwandten: Seine ehrliche arme Tochter, den reichen Bruder, der seinen Sohn der armen Base nicht zur Frau geben und trotz seines Alters sich eine junge Frau nehmen will. Erst später enthüllt er sich durch Aufreißen eines Kaiserrockes, unter dem auf einer quergebundenen Schärpe die Orden aller Fürsten Europas hängen. Mit Violinspiel und Gesang macht er alle Verwandten und ihren Anhang zu guten Menschen und bringt ihre Verhältnisse in Ordnung.

Frau Tschissik spielte wieder. Ihr Leib war gestern schöner als ihr Gesicht, das schmäler schien als sonst, so daß die Stirn, die sich beim ersten Wort in Falten wirft, zu sehr auffiel. Der schön gerundete mittelstarke große Körper gehörte gestern nicht zu ihrem Gesicht und sie erinnerte mich undeutlich an Doppelwesen wie Seejungfrauen, Sirenen, Centauren. Als sie dann vor mir stand mit verzogenem Gesicht, unreinem von der Schminke angegriffenem Teint, einem Fleck auf der dunkelblauen, kurzärmeligen Bluse war es mir wie wenn ich im Kreise unbarmherziger Zuschauer zu einer Statue reden sollte. Frau Klug stand neben ihr und beobachtete mich. Fräulein Weltsch beobachtete mich von links. Ich sagte soviel Dummheiten als möglich war. So ließ ich nicht ab, Frau T. zu fragen, warum sie nach Dresden gefahren war, trotzdem ich wußte, daß sie sich mit den andern zerworfen hatte und deshalb weggefahren war und daß ihr daher dieses Thema peinlich war. Schließlich war es mir noch peinlicher nur fiel mir nichts anderes ein. Als Frau Tschisik dazutrat, während ich mit Frau Klug sprach, sagte ich, indem ich mich Frau T. zuwendete zu Frau Klug "Pardon!", wie wenn ich beabsichtigte, vonjetzt an mit Frau T. mein Leben zu verbringen. Wie ich dann mit Frau T. sprach, merkte ich, daß meine Liebe sie eigentlich nicht erfaßt hatte, sendern sie nur bald näher bald weiter umflog. Ruhe kann ihr ja nicht gegeben sein. – Frau Liebgold spielte einen jungen Mann in einem Kleid, das ihren schwangern Leib fest umschloß. Da sie ihrem Vater (Löwy) nicht folgt, drückt er ihren Oberkörper auf einen Sessel nieder und schlägt sie auf den Hintern, über dem sich die Hose äußerst spannt. Löwy sagte dann, er habe sie mit dem gleichen Widerwillen wie eine Maus angerührt. Sie ist aber von vorn gesehen hübsch, nur im Profil fährt ihre Nase zu lang, zu spitz und grausam hinab.

Ich kam erst um 10 Uhr hin, machte vorher einen Spaziergang und kostete die leichte Nervosität aus, einen Platz im Teater zu haben und während der Vorstellung also während die Solisten mich herbeizusingen versuchen, spazieren zu gehn. Ich versäumte auch Fr. Klug, deren immer lebendigen Gesang anzuhören nichts anderes bedeutet, als die Welt auf ihre Festigkeit zu prüfen, was ich doch nötig habe.

Heute sprach ich beim Frühstück mit der Mutter zufällig über Kinder und Heirathen, nur ein paar Worte, aber ich bemerkte dabei zum erstenmal deutlich, wie unwahr und kindlich die Vorstellung ist, die sich meine Mutter von mir macht. Sie hält mich für einen gesunden jungen Mann, der ein wenig an der Einbildung leidet, krank zu sein. Diese Einbildung wird mit der Zeit von selbst schwinden, eine Heirat allerdings und Kinderzeugung würde sie am gründlichsten beseitigen. Dann würde auch das Interesse an der Litteratur auf jenes Maß zurückgehn, das vielleicht den Gebildeten nötig ist. Das Interesse an meinem Beruf oder an der Fabrik oder an dem, was mir gerade in die Hände kommt, wird in selbstverständlicher ungestörter Größe einsetzen. Zu dauernder Verzweiflung an meiner Zukunft ist daher nicht der geringste mit keiner Ahnung zu berührende Grund, zu zeitweiliger Verzweiflung, die aber auch nicht tiefgeht, ist dann Veranlassung, wenn ich wieder einmal den Magen verdorben zu haben glaube oder wenn ich, weil ich zuviel schreibe, nicht schlafen kann. Lösungsmöglichkeiten gibt es tausende. Die Wahrscheinlichste ist, daß ich mich plötzlich in ein Mädchen verliebe und von ihr nicht mehr werde ablassen können. Dann werde ich sehn, wie gut man es mit mir meint und wie man mich nicht hindern wird. Wenn ich aber Junggeselle werde, wie der Onkel in Madrid, wird es auch kein Unglück sein, weil ich in meiner Gescheitheit mich schon einzurichten wissen werde.

23. XII 11 Sa. Kommt beim Anblick meiner ganzen Lebensweise, die in eine allen Verwandten und Bekannten fremde falsche Richtung führt, die Befürchtung auf und wird sie von meinem Vater ausgesprochen, daß aus mir ein zweiter Onkel Rudolf, also der Narr der neuen nachwachsenden Familie, der für die Bedürfnisse einer andern Zeit etwas abgeänderte Narr werden wird, dann werde ich von jetzt ab fühlen können, wie in der Mutter, deren Widerspruch gegen solche Meinung im Laufe der Jahre immer kleiner wird, alles sich sammelt und stärkt, was für mich und was gegen Onkel Rudolf spricht und wie ein Keil zwischen die Vorstellungen von uns beiden fährt.

Vorgestern in der Fabrik. Abends bei Max, wo der Maler Novak gerade die Litographien von Max ausbreitete. Ich wußte mich ihnen gegenüber nicht zu fassen, nicht ja nicht nein zu sagen. Max brachte einige Ansichten vor, die er sich schon gebildet hatte, worauf sich mein Denken darum herumkugelte ohne Ergebnis. Endlich gewöhnte ich mich an die einzelnen Blätter, legte wenigstens die Überraschung der ungeübten Augen ab, fand ein Kinn rund, ein Gesicht gepreßt, einen Oberkörper panzerhaft, er sah aber eher so aus, als trage er ein riesiges Frackhemd unter dem Straßenanzug. Der Maler brachte dagegen einiges nicht auf den ersten und nicht auf den zweiten Anlauf Verständliches vor und schwächte die Bedeutung dessen nur dadurch, daß er es gerade uns gegenüber sagte, die, wenn seines innerlich erwiesen war, den billigsten Unsinn gesprochen hatten. Er behauptete, daß es die gefühlte und selbst bewußte Aufgabe des Künstlers wäre, den Porträtierten in seine eigene Kunstform aufzunehmen. Um dies zu erreichen hatte er zuerst eine Porträtskizze in Farben angefertigt, die auch vor uns lag, in dunklen Farben eine tatsächlich zu scharfe trockene Ähnlichkeit aufwies (diese zu große Schärfe kann ich erst jetzt eingestehn) und von Max für das beste Portrait erklärt wurde, da es außer seiner Ähnlichkeit um Augen und Mund edle, gefaßte Züge trug, die durch die dunklen Farben im richtigen Maße gestärkt wurden. Wurde man danach gefragt, konnte man es nicht leugnen. Nach dieser Skizze arbeitete nun der Maler zuhause an seinen Litographien, indem er, Litographie um Litographie verändernd, darnach trachtete, immermehr von der Naturerscheinung sich zu entfernen, dabei aber seine eigene Kunstform nicht nur nicht zu verletzen, sondern Strich für Strich ihr näherzurücken. So verlor z. B. die Ohrmuschel ihre menschlichen Windungen und den detaillierten Rand und wurde ein vertiefter Halbkreiswirbel um eine kleine dunkle Öffnung. Maxens knochig schon vom Ohr an sich bildendes Kinn verlor seine einfache Begrenzung, so unentbehrlich sie scheint und so wenig für den Beschauer aus der Entfernung der alten Wahrheit eine neue wurde. Das Haar löste sich in sichern, verständlichen Umrissen auf und blieb menschliches Haar, wie es auch der Maler leugnete. Während der Maler das Verständnis dieser Umwandlungen von uns verlangt hatte, deutete er dann nur noch flüchtig aber mit Stolz an, daß alles auf diesen Blättern Bedeutung hatte und daß selbst das Zufällige durch seine alles Nachträgliche beeinflussende Wirkung ein Notwendiges war. So gieng neben einem Kopf ein schmaler, blasser Kaffeefleck fast das ganze Bild hinab, er war eingefügt, berechnet und nicht mehr wegzunehmen ohne Schaden für alle Proportionen. Auf einem andern Blatt war links in der Ecke ein großer zerstreut punktierter, kaum auffallender blauer Fleck; dieser Fleck nun war sogar mit Absicht angebracht, der kleinen, von ihm über das Bild hingehenden Beleuchtung wegen, in welcher dann der Maler weitergearbeitet hatte. Sein nächstes Ziel war nun vor allem den Mund, an dem schon einiges aber nicht genug geschehen war, und dann die Nase in die Umwandlung mit einzubeziehn, wozu er auf die Klage Maxens, daß sich die Litographie auf diese Weise immer mehr von der schönen Farbenskizze entferne, bemerkte, daß es gar nicht ausgeschlossen sei, daß sie sich ihr wieder annähern werde. Nicht zu übersehn war jedenfalls die Sicherheit, mit welcher der Maler in jedem Augenblick des Gesprächs auf das Unvorhergesehene seiner Eingebung vertraute und daß nur dieses Vertrauen seine künstlerische Arbeit mit dem besten Recht zu einer fast Wissenschaftlichen machte. – Zwei Litographien "Apfelverkäuferin" und "Spaziergang" gekauft

Ein Vorteil des Tagebuchführens besteht darin, daß man sich mit beruhigender Klarheit der Wandlungen bewußt wird, denen man unaufhörlich unterliegt, die man auch im allgemeinen natürlich glaubt, ahnt und zugesteht, die man aber unbewußt immer dann leugnet, wenn es darauf ankommt, sich aus einem solchen Zugeständnis Hoffnung oder Ruhe zu holen. Im Tagebuch findet man Beweise dafür, daß man selbst in Zuständen, die heute unerträglich scheinen, gelebt, herumgeschaut und Beobachtungen aufgeschrieben hat, daß also diese Rechte sich bewegt hat wie heute, wo wir zwar durch die Möglichkeit des Überblickes über den damaligen Zustand klüger sind, darum aber desto mehr die Unerschrockenheit unseres damaligen in lauter Unwissenheit sich dennoch erhaltenden Strebens anerkennen müssen.

Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mitfortreißen.

Quälendes Gespräch vorgestern abend mit Weltsch. Meine Blicke liefen aufgescheucht eine Stunde lang auf seinem Gesicht und Hals hin und her. Einmal wußte ich mitten in einer durch Aufregung Schwäche und Gedankenlosigkeit hervorgerufenen Gesichtsverzerrung nicht bestimmt, ob ich ohne dauernde Verletzung unseres Verhältnisses aus dem Zimmer herauskommen werde. Draußen in dem regnerischen für schweigendes Gehn bestimmten Wetter atmete ich auf und wartete dann zufrieden eine Stundelang vor dem "Orient" auf M. Solches Warten mit langsamen Blicken auf die Uhr und gleichgültigem Hin- und Hergehn ist mir fast ebenso angenehm, wie das Liegen auf dem Kanapee mit gestreckten Beinen und den Händen in den Hosentaschen. (Im Halbschlaf glaubt man dann die Hände gar nicht mehr in den Hosentaschen zu haben, sondern sie scheinen als Fäuste oben auf den Schenkeln zu liegen)

24. XII (1911) So. Gestern war es lustig bei Baum. Ich war dort mit Weltsch. Max ist in Breslau. Ich fühlte mich frei, konnte jede Bewegung bis zu ihrem Ende ausführen, ich antwortete und hörte zu wie es sich gehörte, machte am meisten Lärm und sagte ich einmal eine Dummheit, so wurde sie nicht Hauptsache, sondern war gleich fortgeschwemmt. Ebenso war der Nachhauseweg mit Weltsch im Regen, trotz Pfützen, Wind und Kälte vergieng er uns so rasch, als wären wir gefahren. Uns beiden tat es leid, Abschied zu nehmen.

Als Kind hatte ich Angst und wenn nicht Angst so Unbehagen, wenn mein Vater, wie er als Geschäftsmann öfters tat, vom Letzten oder vom Ultimo sprach. Da ich nicht neugierig war und wenn ich auch einmal fragte, infolge langsamen Denkens die Antwort nicht rasch genug verarbeiten konnte und weil oft eine einmal aufgetauchte schwach tätige Neugierde schon durch Frage und Antwort befriedigt war, ohne auch noch einen Sinn zu verlangen, so blieb mir der Ausdruck der Letzte ein peinliches Geheimnis dem infolge bessern Aufhorchens der Ausdruck Ultimo zur Seite trat wenn auch nie in so starker Bedeutung. Schlimm war es auch daß der so lange befürchtete Letzte niemals rein überwunden werden konnte, denn war er einmal ohne besondere Anzeichen ja ohne besondere Aufmerksamkeit vorübergegangen, denn daß er immer nach beiläufig 30 Tagen kam, merkte ich erst viel später, und war der Erste also glücklich angekommen, fieng man allerdings nicht mit besonderem Entsetzen, was aber ohne Überprüfung zu dem andern Unverständlichen gelegt wurde, wieder vom Letzten zu reden an.

Als ich gestern mittag zu W. kam, hörte ich die Stimme seiner Schwester, die mich begrüßte, sie selbst aber sah ich nicht, erst bis sich ihre schwache Gestalt vom Schaukelstuhl ablöste, der vor mir stand.

Heute vormittag Beschneidung meines Neffen. Ein kleiner krummbeiniger Mann, Austerlitz der schon 2800 Beschneidungen hinter sich hat, führte die Sache sehr geschickt aus. Es ist eine dadurch erschwerte Operation, daß der Junge statt auf dem Tisch auf dem Schoß seines Großvaters liegt und daß der Operateur, statt genau aufzupassen, Gebete murmeln muß. Zuerst wird der Junge durch Umbinden, das nur das Glied frei läßt, unbeweglich gemacht, dann wird durch Auflegen einer durchlochten Metallscheibe die Schnittfläche präcisiert, dann erfolgt mit einem fast gewöhnlichen Messer einer Art Fischmesser der Schnitt. Jetzt sieht man Blut und rohes Fleisch, der Moule hantiert darin kurz mit seinen langnägeligen zittrigen Fingern und zieht irgendwo gewonnene Haut wie einen Handschuhfinger über die Wunde. Gleich ist alles gut, das Kind hat kaum geweint. Jetzt kommt nur noch ein kleines Gebet, während dessen der Moule Wein trinkt, und mit seinen noch nicht ganz blutfreien Fingern etwas Wein an die Lippen des Kindes bringt. Die Anwesenden beten: "Wie er nun gelangt ist in den Bund, so soll er gelangen zur Kenntnis der Tora, zum glücklichen Ehebund und zur Ausübung guter Werke"

Als ich heute den Begleiter des Moule zum Nachtisch beten hörte und die Anwesenden abgesehn von den beiden Großvätern die Zeit in vollständigem Unverständnis des Vorgebeteten mit Träumen oder Langweile verbrachten, sah ich das in einem deutlichen unabsehbaren Übergang begriffene westeuropäische Judentum vor mir, über das sich die zunächst Betroffenen keine Sorgen machen, sondern als richtige Übergangsmenschen das tragen, was ihnen auferlegt ist. Diese an ihrem letzten Ende angelangten religiösen Formen, hatten schon in ihrer gegenwärtigen Übung einen so unbestrittenen bloß historischen Charakter, daß nur das Verstreichen einer ganz kleinen Zeit innerhalb dieses Vormittags nötig schien, um die Anwesenden durch Mitteilungen über den veralteten frühernGebrauch der Beschneidung und ihrer halbgesungenen Gebete historisch zu interessieren

Löwy, den ich fast jeden Abend eine 1/2 Stunde lang warten lasse, sagte mir gestern: Seit einigen Tagen schaue ich während des Wartens immer zu ihrem Fenster hinauf. Zuerst sehe ich dort Licht, wenn ich wie gewöhnlich vor der bestimmten Zeit gekommen bin, da nehme ich also an, daß sie noch arbeiten. Dann wird ausgelöscht, im Nebenzimmer bleibt das Licht, sie nachtmahlen also; dann wird in ihrem Zimmer wieder Licht, sie putzen sich also die Zähne; dann wird ausgelöscht, sie sind also schon auf der Treppe, aber dann wird wieder angezündet –

25. XII (1911) Was ich durch Löwy von der gegenwärtigen jüdischen Litteratur in Warschau und was ich durch teilweisen eigenen Einblick von der gegenwärtigen tschechischen Litteratur erkenne, deutet daraufhin, daß viele Vorteile der litterarischen Arbeit, die Bewegung der Geister, das einheitliche Zusammenhalten des im äußern Leben oft untätigen und immer sich zersplitternden nationalen Bewußtseins der Stolz und der Rückhalt, den die Nation durch eine Litteratur für sich und gegenüber der feindlichen Umwelt erhält, dieses Tagebuchführen einer Nation, das etwas ganz anderes ist als Geschichtsschreibung und als Folge dessen, eine schnellere und doch immer vielseitig überprüfte Entwicklung, die detaillierte Vergeistichung des großflächigen öffentlichen Lebens, die Bindung unzufriedener Elemente, die hier, wo Schaden nur durch Lässigkeit entstehen kann, sofort nützen, die durch das Getriebe der Zeitschriften sich bildende, immer auf das Ganze angewiesene Gliederung des Volkes, die Einschränkung der Aufmerksamkeit der Nation auf ihren eigenen Kreis und Aufnahme des Fremden nur in der Spiegelung, das Entstehen der Achtung vor litterarisch tätigen Personen, die vorübergehende aber nachwirkende Erweckung höheren Strebens unter den Heranwachsenden, die Übernahme litterarischer Vorkommnisse in die politischen Sorgen, die Veredlung und Besprechungsmöglichkeit des Gegensatzes zwischen Vätern und Söhnen, die Darbietung der nationalen Fehler in einer zwar besonders schmerzlichen, aber verzeihungswürdigen und befreienden Weise, das Entstehen eines lebhaften und deshalb selbstbewußten Buchhandels und der Gier nach Büchern – alle diese Wirkungen können schon durch eine Litteratur hervorgebracht werden, die sich in einer tatsächlich zwar nicht ungewöhnlichen Breite entwickelt, aber infolge des Mangels bedeutender Talente diesen Anschein hat. Die Lebhaftigkeit einer solchen Litteratur ist sogar größer als die einer talentreichen, denn da es hier keine Schriftsteller giebt, vor dessen Begabung wenigstens die Mehrzahl der Zweifler zu schweigen hätte, bekommt der litterarische Streit in größtem Ausmaß eine wirkliche Berechtigung. Die von keiner Begabung durchbrochene Litteratur zeigt deshalb auch keine Lücken, durch die sich Gleichgültige drücken könnten. Der Anspruch der Litteratur auf Aufmerksamkeit wird dadurch zwingender. Die Selbständigkeit des einzelnen Schriftstellers, natürlich nur innerhalb der nationalen Grenzen, wird besser gewahrt. Der Mangel unwiderstehlicher nationaler Vorbilder hält völlig Unfähige von der Litteratur ab. Aber selbst schwache Fähigkeiten genügen nicht, um sich von den undeutlichen Charakterzeichen der eben herrschenden Schriftsteller beeinflussen zu lassen oder die Ergebnisse fremder Litteraturen einzuführen oder die schon eingeführte fremde Litteratur nachzuahmen, was man schon daraus erkennen kann, daß z. B. innerhalb einer an großen Begabungen reichen Litteratur wie der deutschen die schlechtesten Schriftsteller sich mit ihrer Nachahmung an das Inland halten. Besonders wirkungsvoll zeigt sich die in den obigen Richtungen schöpferische und beglückende Kraft einer im einzelnen schlechten Litteratur, wenn damit begonnen wird, verstorbene Schriftsteller litteraturgeschichtlich zu registrieren. Ihre unleugbaren damaligen und gegenwärtigen Wirkungen werden etwas so tatsächliches, daß es mit ihren Dichtungen vertauscht werden kann. Man spricht von den letzteren und meint die ersteren, ja man liest sogar die letzteren und sieht bloß die erstern. Da sich jene Wirkungen aber nicht vergessen lassen und die Dichtungen selbständig die Erinnerung nicht beeinflussen, gibt es auch kein Vergessen und kein Wiedererinnern. Die Litteraturgeschichte bietet einen unveränderlichen vertrauenswürdigen Block dar, dem der Tagesgeschmack nur wenig schaden kann. Das Gedächtnis einer kleinen Nation ist nicht kleiner als das Gedächtnis einer großen, es verarbeitet daher den vorhandenen Stoff gründlicher. Es werden zwar weniger Litteraturgeschichtskundige beschäftigt, aber die Litteratur ist weniger eine Angelegenheit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Volkes und darum ist sie wenn auch nicht rein so doch sicher aufgehoben. Denn die Anforderungen, die das Nationalbewußtsein innerhalb eines kleinen Volkes an den Einzelnen stellt, bringen es mit sich, daß jeder immer bereit sein muß den auf ihn entfallenden Teil der Litteratur zu kennen, zu tragen zu verfechten und jedenfalls zu verfechten, wenn er ihn auch nicht kennt und trägt.

Beschneidung in Rußland. In der ganzen Wohnung, wo sich nur Türen finden, werden handtellergroße mit kaballistischen Zeichen bedruckte Tafeln aufgehängt, um die Mutter in der Zeit zwischen der Geburt und der Beschneidung vor bösen Geistern zu schützen, die ihr und dem Kind um diese Zeit besonders gefährlich werden können, vielleicht weil ihr der Körper so sehr geöffnet wurde und also allem Bösen bequemen Eingang bietet und weil auch das Kind solange es nicht in den Bund aufgenommen ist, dem Bösen keinen Widerstand leisten kann. Deshalb wird auch, damit die Mutter keinen Augenblick allein bleibe, eine Wärterin aufgenommen. Zur Abwehr der bösen Geister dient es auch daß während 7 Tagen nach der Geburt mit Ausnahme des Freitag 10-15 Kinder, immer andere, gegen Abend unter Führung des Belfer (Hilfslehrer) zum Bett der Mutter vorgelassen werden dort das Schema Israel aufsagen und dann mit Süßigkeiten beschenkt werden. Diese unschuldigen 5-8 Jahre alten Kinder sollen die bösen Geister, die gegen Abend am meisten drängen, besonders wirksam abhalten. Freitag wird ein besonderes Fest abgehalten, wie überhaupt während dieser Woche mehrere Gastmähler einander folgen. Vor dem Tag der Beschneidung werden die Bösen am wildesten, deshalb ist die letzte Nacht eine Wachnacht und man verbringt sie bis gegen Morgen wachend bei der Mutter. Die Beschneidung erfolgt meist in Gegenwart von oft über 100 Verwandten und Freunden. Der angesehenste der Anwesenden darf das Kind tragen. Der Beschneider, der sein Amt ohne Bezahlung ausübt, ist meist ein Säufer, da er beschäftigt, wie er ist, an den verschiedenen Festessen sich nicht beteiligen kann und daher nur etwas Schnaps herunterschüttet. Alle diese Beschneider haben deshalb rote Nasen und riechen aus dem Mund. Es ist daher auch nicht appetitlich, wenn sie, nachdem der Schnitt ausgeführt ist, mit diesem Mund das blutige Glied aussaugen wie es vorgeschrieben ist. Das Glied wird dann mit Holzmehl bedeckt und ist in 3 Tagen beiläufig heil.

Den Juden und natürlich besonders denen in Rußland scheint nicht so sehr ein strenges Familienleben gemeinsam und bezeichnend zu sein, denn Familienleben findet sich schließlich auch bei Christen und störend für das Familienleben der Juden ist doch, daß die Frau vom Talmudstudium ausgeschlossen ist, so daß die Frauen, wenn sich der Mann mit Gästen über gelehrte Talmuddinge also den Mittelpunkt seines Lebens unterhalten will, sich ins Nebenzimmer zurückziehn wenn nicht zurückziehn müssen, so ist es für sie noch eigentümlicher, daß sie so oft bei jeder möglichen Gelegenheit zusammenkommen, sei es zum Beten, oder zum Studieren oder zur Besprechung göttlicher Dinge oder zu meist religiös begründeten Festmahlzeiten, bei denen nur sehr mäßig Alkohol getrunken wird. Sie fliehen förmlich zu einander.

Goethe hält durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der deutschen Sprache wahrscheinlich zurück. Wenn sich auch die Prosa in der Zwischenzeit öfters von ihm entfernt, so ist sie doch schließlich, wie gerade gegenwärtig mit verstärkter Sehnsucht zu ihm zurückgekehrt und hat sich selbst alte bei Goethe vorfindliche sonst aber mit ihm nicht zusammenhängende Wendungen angeeignet, um sich an dem vervollständigten Anblick ihrer grenzenlosen Abhängigkeit zu erfreuen.

Ich heiße hebräisch Anschel wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißem Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die 6 Jahre alt war als er starb. Sie erinnert sich, wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlungen erbitten mußte. Sie erinnert sich auch an die vielen die Wände füllenden Bücher des Großvaters. Er badete jeden Tag im Fluß, auch im Winter, dann hackte er sich zum Baden ein Loch ins Eis. Die Mutter meiner Mutter starb frühzeitig an Typhus. Von diesem Tode angefangen wurde die GroßMutter trübsinnig, weigerte sich zu essen, sprach mit niemandem, einmal, ein Jahr nach dem Tode ihrer Tochter gieng sie spazieren und kehrte nicht mehr zurück, ihre Leiche zog man aus der Elbe. Ein noch gelehrterer Mann als der Großvater war der Urgroßvater der Mutter, bei Christen und Juden stand er in gleichem Ansehen, bei einer Feuersbrunst geschah infolge seiner Frömmigkeit das Wunder, daß das Feuer sein Haus übersprang und verschonte, während die Häuser in der Runde verbrannten. Er hatte 4 Söhne, einer trat zum Christentum über und wurde Arzt. Alle außer dem Großvater der Mutter starben bald. Dieser hatte einen Sohn, die Mutter kannte ihn als verrückten Onkel Nathan, und eine Tochter, eben die Mutter meiner Mutter.

gegen das Fenster laufen und durch die zersplitterten Hölzer und Scheiben schwach nach Anwendung aller Kraft die

Fensterbrüstung überschreiten.

26. XII (1911) Wieder schlecht geschlafen, schon die 3te Nacht. So habe ich die 3 Feiertage, in denen ich Dinge zu schreiben hoffte, die mir durch das ganze Jahr helfen sollten, in einem hilfsbedürftigen Zustand verbracht. Am Weihnachtsabend Spaziergang mit Löwy gegen Stern zu. Gestern "Blümale oder die Perle von Warschau. " Für ihre standhafte Liebe und Treue wird Blümale vom Verfasser im Titel mit dem Ehrennamen "Perle von Warschau" ausgezeichnet. Erst der freigelegte hohe zarte Hals der Fr. Tschissik erklärt ihre Gesichtsbildung. Der Tränenglanz in den Augen der Frau Klug beim Singen einer gleichmäßig welligen Melodie, in welche die Zuhörer ihre Köpfe hängen lassen, schien mir in seiner Bedeutung weit über das Lied, über das Teater, über die Sorgen des ganzen Publikums ja über meine Vorstellungskraft hinauszugehn. Blick durch die hintere Portiere in die Garderobe gerade auf Frau Klug, die dort im weißen Unterrock und kurzärmeligem Hemd steht. Meine Unsicherheit über die Gefühle des Publikums und daher anstrengende innerliche Aufstachelung seiner Begeisterung. Meine gestrige gewandte liebenswürdige Art mit Fräul. T. und ihrer Begleitung zu sprechen. Es gehörte mit zu dieser gestern wie auch schon Samstag gefühlten Freiheit meines guten Wesens, daß ich, trotzdem ich es auch von der Ferne nicht nötig hatte, aus einer gewissen Nachgiebigkeit gegenüber der Welt und einer übermüthigen Bescheidenheit ein paar äußerlich verlegene Worte und Bewegungen gebrauchte. Ich war allein mit meiner Mutter und nahm auch das leicht und schön; sah alle mit Festigkeit an.

Fortsetzung

Die alten Schriften bekommen viele Deutungen, die gegenüber dem schwachen Material mit einer Energie vorgehn, die nur gedämpft ist durch die Befürchtung, daß man zu leicht bis zum Ende vordringen könnte sowie durch die Ehrfurcht, über die man sich geeinigt hat. Alles geschieht in der ehrlichsten Weise, nur daß innerhalb einer Befangenheit gearbeitet wird, die sich niemals löst, keine Ermüdung aufkommen läßt und durch das Sichheben einer geschickten Hand meilenweit sich verbreitet. Schließlich heißt aber Befangenheit nicht nur die Verhinderung des Ausblicks, sondern auch jene des Einblicks, wodurch ein Strich durch alle diese Bemerkungen gezogen wird.

Weil die zusammenhängenden Menschen fehlen, entfallen zusammenhängende litterarische Aktionen. [Eine einzelne Angelegenheit wird in die Tiefe gedrückt, um sie von der Höhe beobachten zu können, oder sie wird in die Höhe gehoben, damit man sich oben an ihrer Seite behaupten kann. Falsch.] Wenn auch die einzelne Angelegenheit oft mit Ruhe durchdacht wird, so kommt man doch nicht bis an ihre Grenzen, an denen sie mit gleichartigen Angelegenheiten zusammenhängt, am ehesten erreicht man die Grenze gegenüber der Politik, ja man strebt sogar danach, diese Grenze früher zu sehen als sie da ist und oft diese sich zusammenziehende Grenze überall zu finden. Die Enge des Raumes, ferner die Rücksicht auf Einfachheit und Gleichmäßigkeit, endlich auch die Erwägung, daß infolge der innern Selbständigkeit dei Litteratur die äußere Verbindung mit der Politik unschädlich ist, führen dazu, daß die Litteratur sich dadurch im Lande verbreitet, daß sie sich an den politischen Schlagworten festhält.

Allgemein findet sich die Freude an der litterarischen Behandlung kleiner Themen, die nur so groß sein dürfen, daß eine kleine Begeisterung sich an ihnen verbrauchen kann und die polemische Aussichten und Rückhalte haben. Litterarisch überlegte Schimpfworte rollen hin und wieder, im Umkreis der stärkeren Temperamente fliegen sie. Was innerhalb großer Litteraturen unten sich abspielt und einen nicht unentbehrlichen Keller des Gebäudes bildet, geschieht hier im vollen Licht, was dort einen augenblicksweisen Zusammenlauf entstehen läßt, führt hier nichts weniger als die Entscheidung über Leben und Tod aller herbei.

Verzeichnis der heute leicht als altertümlich vorzustellenden Dinge: die bettelnden Krüppel auf den Wegen zu Promenaden und Ausflugsorten, der in der Nacht unbeleuchtete Luftraum, der Brückenkreuzer

Ein Verzeichnis jener Stellen aus "Dichtung u. Wahrheit" die durch eine nicht festzustellende Eigenheit einen besonders starken, mit dem eigentlich Dargestellten nicht wesentlich zusammenhängenden Eindruck des Lebendigen machen z. B. die Vorstellung des Knaben Goethe hervorrufen, wie er neugierig, reich angezogen, beliebt und lebhaft bei allen Bekannten eindringt, um nur alles zu sehen und zu hören, was zu sehen und zu hören ist. Da ich jetzt das Buch durchblättere kann ich solche Stellen nicht finden, alle scheinen mir deutlich und enthalten eine durch keinen Zufall zu überbietende Lebendigkeit. Ich muß warten, bis ich einmal harmlos lesen werde und dann bei den richtigen Stellen mich anhalten.

Unangenehm ist es, zuzuhören, wenn der Vater mit unaufhörlichen Seitenhieben auf die glückliche Lage der Zeitgenossen und vor allem seiner Kinder von den Leiden erzählt, die er in seiner Jugend auszustehen hatte. Niemand leugnet es, daß er jahrelang infolge ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen hatte, daß er häufig gehungert hat, daß er schon mit 10 Jahren ein Wägelchen auch im Winter und sehr früh am Morgen durch die Dörfer schieben mußte – nur erlauben, was er nicht verstehen will, diese richtigen Tatsachen im Vergleich mit der weiteren richtigen Tatsache, daß ich das alles nicht erlitten habe, nicht den geringsten Schluß darauf, daß ich glücklicher gewesen bin als er, daß er sich wegen dieser Wunden an den Beinen überheben darf, daß er von allem Anfang an annimmt und behauptet, daß ich seine damaligen Leiden nicht würdigen kann und daß ich ihm schließlich gerade deshalb, weil ich nicht die gleichen Leiden hatte, grenzenlos dankbar sein muß. Wie gern würde ich zuhören, wenn er ununterbrochen von seiner Jugend und seinen Eltern erzählen würde, aber alles dies im Tone der Prahlerei und des Zankens anzuhören, ist quälend. Immer wieder schlägt er die Hände zusammen: "Wer weiß das heute! Was wissen die Kinder! Das hat niemand gelitten! Versteht das heute ein Kind! " Heute wurde mit der Tante Julie die uns besuchte wieder ähnlich gesprochen. Sie hat auch das riesige Gesicht aller Verwandten von Vaters Seite. Die Augen sind um eine kleine störende Nuance falsch gebettet oder gefärbt. Sie wurde mit 10 Jahren als Köchin vermietet. Da mußte sie bei großer Kälte in einem nassen Röckchen um etwas laufen, die Haut an den Beinen sprang ihr, das Röckchen gefror und trocknete erst abends im Bett.

27. XII 11 Ein unglücklicher Mensch, der kein Kind haben soll, ist in sein Unglück schrecklich eingeschlossen. Nirgends eine Hoffnung auf Erneuerung, auf eine Hilfe durch glücklichere Sterne. Er muß mit dem Unglück behaftet seinen Weg machen wenn sein Kreis beendet ist, sich zufrieden geben und nicht weiterhin anknüpfen, um zu versuchen, ob dieses Unglück, das er erlitten hat, auf einem längern Wege, unter andern Körper- und Zeitumständen sich verlieren oder gar ein Gutes hervorbringen könnte

Dieses Gefühl des Falschen das ich beim Schreiben habe, ließe sich unter dem Bilde darstellen, daß einer vor zwei Bodenlöchern auf eine Erscheinung wartet, die nur aus dem zur rechten Seite herauskommen darf. Während aber gerade dieses unter einem matt sichtbaren Verschluß bleibt, steigt aus dem linken eine Erscheinung nach der andern, sucht den Blick auf sich zu ziehn und erreicht dies schließlich mühelos durch ihren wachsenden Umfang, der endlich sogar die richtige Öffnung, so sehr man abwehrt, verdeckt. Nun ist man aber, wenn man diesen Platz nicht verlassen will – und das will man um keinen Preis – auf diese Erscheinungen angewiesen, die einem aber infolge ihrer Flüchtigkeit – ihre Kraft verbraucht sich im bloßen Erscheinen – nicht genügen können, die man aber, wenn sie aus Schwäche stocken, aufwärts und in alle Richtungen vertreibt, um nur andere heraufzubringen, da der dauernde Anblick einer unerträglich ist und da auch die Hoffnung bleibt, daß nach Erschöpfung der falschen Erscheinungen endlich die wahren emporkommen werden.

Schema zur Charakteristik kleiner Litteraturen:

Wirkung im guten Sinn hier wie dort auf jeden Fall.

Hier sind im Einzelnen sogar bessere Wirkungen.

1 Lebhaftigkeit

a Streit b. Schulen c Zeitschriften

2 Entlastung

a Principienlosigkeit b kleine Themen c leichte Symbolbildung d Abfall der Unfähigen

3 Popularität

a Zusammenhang mit Politik b Litteraturgeschichte

c Glaube an die Litteratur, ihre Gesetzgebung wird ihr überlassen,

Es ist schwer sich umzustimmen, wenn man dieses nützliche fröhliche Leben in allen Gliedern gefühlt hat

Wie wenig kräftig ist das obere Bild. Zwischen tatsächliches Gefühl und vergleichende Beschreibung ist wie ein Brett eine zusammenhanglose Voraussetzung eingelegt.

28. XII 11 Die Qual, die mir die Fabrik macht. Warum habe ich es hingehen lassen als man mich verpflichtete, daß ich nachmittags dort arbeiten werde. Nun zwingt mich niemand mit Gewalt, aber der Vater durch Vorwürfe, Karl durch Schweigen und mein Schuldbewußtsein. Ich weiß nichts von der Fabrik und stand bei der komissionellen Besichtigung heute früh nutzlos und wie geprügelt herum. Ich leugne für mich die Möglichkeit hinter alle Einzelheiten des Fabriksbetriebes zu kommen. Und wenn es durch endlose Fragerei und Belästigung aller Beteiligten gelänge, was wäre erreicht? Ich wüßte mit diesem Wissen nichts tatsächliches anzufangen, ich bin nur zu Scheinverrichtungen geeignet, denen der gerade Sinn meines Chefs das Salz beigibt und das Ansehn einer wirklichen guten Leistung. Durch diese nichtige für die Fabrik aufgewendete Anstrengung würde ich mich auf der andern Seite aber der Möglichkeit berauben die paar Nachmittagstunden für mich aufzuwenden, was notwendig zur gänzlichen Vernichtung meiner Existenz führen müßte, die sich auch ohnedies immer mehr einschränkt.

Heute nachmittag bei einem Ausgang sah ich paar Schritte lang lauter eingebildete Mitglieder der Komission, die mir Vormittag solche Angst gemacht hatte, mir entgegenkommen oder meinen Weg kreuzen.

29. XII 11

jene lebendigen Stellen bei Goethe. S. 265 "Ich zog daher meinen Freund in die Wälder"

Das Wachsen der Kräfte durch umfangreiche schlagkräftige Erinnerungen. Ein selbständiges Kielwasser wird zu unserem Schiffe hingedreht und mit der erhöhten Wirkung steigt das Bewußtsein unserer Kräfte und sie selbst.

Goethe: 307 "Ich hörte nun in diesen Stunden gar kein ander Gespräch als von Medizin oder Naturhistorie und meine Einbildungskraft wurde in ein ganz ander Feld hinübergezogen. "

Die Schwierigkeiten der Beendigung selbst eines kleinen Aufsatzes liegen nicht darin, daß unser Gefühl für das Ende des Stückes ein Feuer verlangt, das der tatsächliche bisherige Inhalt aus sich selbst nicht hat erzeugen können, sie entstehen vielmehr dadurch, daß selbst der kleinste Aufsatz vom Verfasser eine Selbstzufriedenheit und eine Verlorenheit in sich selbst verlangt, aus der an die Luft des gewöhnlichen Tages zu treten ohne starken Entschluß und äußern Ansporn schwierig ist, so daß man eher, als der Aufsatz rund geschlossen wird und man still abgleiten darf, vorher von der Unruhe getrieben ausreißt und dann der Schluß von außenher geradezu mit Händen beendigt werden muß, die nicht nur arbeiten sondern sich auch festhalten müssen.

30 XII 11 Mein Nachahmungstrieb hat nichts Schauspielerisches, es fehlt ihm vor Allem die Einheitlichkeit. Das Grobe, auffallend Charakteristische in seinem ganzen Umfange kann ich gar nicht nachahmen, ähnliche Versuche sind mir immer mißlungen sie sind gegen meine Natur. Zur Nachahmung von Details des Groben habe ich dagegen einen entschiedenen Trieb, die Manipulationen gewisser Menschen mit Spazierstöcken, ihre Haltung der Hände, ihre Bewegung der Finger nachzuahmen drängt es mich und ich kann es ohne Mühe. Aber gerade dieses Mühelose, dieser Durst nach Nachahmung entfernt mich vom Schauspieler, weil diese Mühelosigkeit ihr Gegenspiel darin hat, daß niemand merkt, daß ich nachahme. Nur meine eigene zufriedene oder öfter widerwillige Anerkennung zeigt mir das Gelingen an. Weit über diese äußerliche Nachahmung aber geht noch die innerliche, die oft so schlagend und stark ist, daß in meinem Innern gar kein Platz bleibt diese Nachahmung zu beobachten und zu konstatieren, sondern daß ich sie erst in der Erinnerung vorfinde. Hier ist aber auch die Nachahmung so vollkommen und ersetzt mit einem Sprung und Fall mich selbst, daß sie auf der Bühne, unter der Voraussetzung, daß sie überhaupt augenscheinlich gemacht werden könnte, unerträglich wäre. Mehr als äußerstes Spiel kann dem Zuschauer nicht zugemuthet werden. Wenn ein Schauspieler, der nach Vorschrift einen andern zu prügeln hat, in der Erregung, im übergroßen Anlauf der Sinne, wirklich prügelt und der andere vor Schmerzen schreit, dann muß der Zuschauer Mensch werden und sich ins Mittel legen. Was aber in dieser Art selten geschieht, geschieht in untergeordneteren Arten unzähligemale. Das Wesen des schlechten Schauspielers besteht nicht darin, daß er schwach nachahmt, eher schon darin daß er infolge von Mängeln seiner Bildung, Erfahrung und Anlage falsche Muster nachahmt. Aber sein wesentlichster Fehler bleibt daß er die Grenze des Spiels nicht wahrt und zu stark nachahmt. Seine dämmerhafte Vorstellung von den Forderungen der Bühne treibt ihn dazu und selbst wenn der Zuschauer glaubt, dieser oder jener Schauspieler sei schlecht, weil er stockig herumstehe, mit den Fingerspitzen am Rand seiner Tasche spiele, ungehörig die Hände an den Hüften einknicke, zum Souffleur hinhorche, um jeden Preis, mögen sich die Zeiten auch vollständig ändern, einen ängstlichen Ernst bewahre, so ist doch auch dieser auf die Bühne herabgeschneite Schauspieler nur deshalb schlecht, weil er zu stark nachahmt, wenn er dies auch nur in seiner

31. XII 11

Meinung tut. Gerade weil seine Fähigkeiten so begrenzt sind, fürchtet er sich weniger zu tun als alles. Selbst wenn seine Fähigkeit nicht geradezu unteilbar klein sein sollte, will er doch nicht verraten, daß unter Umständen und bei Miteintritt seines Willens auch weniger Kunst ihm zu Verfügung stehen kann, als seine Ganze. Die freie, ohne Rücksicht auf die Aufpasser im Parterre vorsichgehende, nach den rein gefühlten Bedürfnissen der Darstellung gelenkte,

Am Morgen fühlte ich mich zum Schreiben so frisch, jetzt aber hindert mich die Vorstellung, daß ich Max am Nachmittag vorlesen soll, vollständig. Es zeigt dies auch, wie unfähig ich zur Freundschaft bin, vorausgesetzt, daß Freundschaft in diesem Sinne überhaupt möglich ist. Denn da eine Freundschaft ohne die Unterbrechungen des täglichen Lebens nicht denkbar ist, so wird, bleibe auch ihr Kern unverletzt, eine Menge ihrer Äußerungen immer wieder weggeweht. Aus dem unverletzten Kern bilden sie sich allerdings von neuem, aber da jede solche Bildung Zeit braucht und auch nicht jede erwartete gelingt, kann selbst abgesehen von dem Wechsel der persönlichen Stimmungen niemals dort angeknüpft werden wo das letztemal abgebrochen wurde. Daraus muß bei tief begründeten Freundschaften vor jeder neuen Begegnung eine Unruhe entstehen, die nicht so groß sein muß, daß sie an sich gefühlt wird, die aber das Gespräch und das Benehmen bis zu einem Grade stören kann, daß man bewußt erstaunt, besonders da man den Grund nicht erkennt oder nicht glauben kann. Wie soll ich da M. vorlesen oder gar beim Niederschreiben des Folgenden denken, daß ich es ihm vorlesen werde.

Außerdem stört mich, daß ich das Tagebuch heute früh daraufhin durchgeblättert habe, was ich M. vorlesen könnte. Nun habe ich bei dieser Überprüfung weder gefunden, daß das bisher Geschriebene besonders wertvoll sei, noch daß es geradezu weggeworfen werden müsse. Mein Urteil liegt zwischen beiden und näher der ersten Meinung, doch ist es nicht derartig, daß ich mich nach dem Wert des Geschriebenen trotz meiner Schwäche für erschöpft ansehn müßte. Trotzdem hat mich der Anblick der Menge des von mir Geschriebenen von der Quelle des eigenen Schreibens deshalb für die nächsten Stunden fast unwiederbringlich abgelenkt, weil sich die Aufmerksamkeit im gleichen Flußlauf gewissermaßen flußabwärts verloren hat.

Während ich manchmal glaube, daß ich während der ganzen Gymnasialzeit und auch früher besonders scharf denken konnte und dies nur infolge der späteren Schwächung meines Gedächtnisses heute nicht mehr gerecht beurteilen kann, so sehe ich ein anderes mal wieder ein, daß mir mein schlechtes Gedächtnis nur schmeicheln will und daß ich wenigstens in an sich unbedeutenden aber folgeschweren Dingen mich sehr denkfaul benommen habe. So habe ich allerdings in der Erinnerung, daß ich in den Gymnasialzeiten öfters – wenn auch nicht sehr ausführlich, ich ermüdete wahrscheinlich schon damals leicht – mit Bergmann in einer entweder innerlich vorgefundenen oder ihm nachgeahmten talmudischen Weise über Gott und seine Möglichkeit disputierte. Ich knüpfte damals gern an das in einer christlichen Zeitschrift – ich glaube "die christliche Welt" – gefundene Thema an, in welchem eine Uhr und die Welt und der Uhrmacher und Gott einander gegenübergestellt waren und die Existenz des Uhrmachers jene Gottes beweisen sollte. Das konnte ich meiner Meinung nach sehr gut dem Bergmann gegenüber widerlegen wenn auch diese Widerlegung in mir nicht fest begründet war und ich mir sie für den Gebrauch erst wie ein Geduldspiel zusammensetzen mußte. Eine solche Widerlegung fand einmal statt, als wir den Rathausturm umgiengen. Daran erinnere ich mich deshalb genau, weil wir einander einmal vor Jahren daran erinnert haben. – Während ich mich aber darin auszuzeichnen glaubte – anderes als das Verlangen mich auszuzeichnen und die Freude am Wirken und an der Wirkung brachte mich nicht dazu – duldete ich es nur infolge nicht genügend starken Nachdenkens, daß ich immer in schlechten Kleidern herumgieng, die mir meine Eltern abwechselnd von einzelnen Kundschaften, am längsten von einem Schneider in Nusle machen ließen. Ich merkte natürlich, was sehr leicht war, daß ich besonders schlecht angezogen gieng und hatte auch ein Auge dafür wenn andere gut angezogen waren, nur brachte es mein Denken durch Jahre hin nicht fertig die Ursache meines jämmerlichen Aussehns in meinen Kleidern zu finden. Da ich schon damals mehr in Ahnungen als in Wirklichkeit auf dem Wege war, mich geringzuschätzen, war ich überzeugt, daß die Kleider nur an mir dieses zuerst bretterartig steife dann faltighängende Aussehen annehmen. Neue Kleider wollte ich gar nicht, denn wenn ich schon häßlich aussehn sollte, wollte ich es wenigstens bequem haben und außerdem vermeiden, der Welt, die sich an die alten Kleider gewöhnt hatte, die Häßlichkeit der neuen vorzuführen. Diese immer lang dauernden Weigerungen meiner Mutter gegenüber, die mir öfters neue Kleider dieser Art machen lassen wollte, da sie mit den Augen des erwachsenen Menschen immerhin Unterschiede zwischen diesen neuen und alten Kleidern finden konnte, wirkten insoferne auf mich zurück, als ich mir unter Bestätigung meiner Eltern einbilden mußte, daß mir an meinem Aussehen nichts lag.

2 I 11 (1912) Infolgedessen gab ich den schlechten Kleidern auch in meiner Haltung nach, gieng mit gebeugtem Rücken, schiefen Schultern, verlegenen Armen und Händen herum; fürchtete mich vor Spiegeln, weil sie mich in einer meiner Meinung nach unvermeidlichen Häßlichkeit zeigten, die überdies nicht ganz wahrheitsgemäß abgespiegelt sein konnte, denn hätte ich wirklich so ausgesehn, hätte ich auch größeres Aufsehen erregen müssen, erduldete auf Sonntagspaziergängen von der Mutter sanfte Stöße in den Rücken und viel zu abstrakte Ermahnungen und Prophezeiungen, die ich mit meinen damaligen gegenwärtigen Sorgen in keine Beziehung bringen konnte. Überhaupt fehlte es mir hauptsächlich an der Fähigkeit, für die tatsächliche Zukunft auch nur im Geringsten vorzusorgen. Ich blieb mit meinem Denken bei den gegenwärtigen Dingen und ihren gegenwärtigen Zuständen nicht aus Gründlichkeit oder zu sehr festgehaltenem Interesse, sondern, soweit es nicht Schwäche des Denkens verursachte, aus Traurigkeit und Furcht, aus Traurigkeit, denn weil mir die Gegenwart so traurig war, glaubte ich sie nicht verlassen zu dürfen, ehe sie sich ins Glück auflöste, aus Furcht, denn wie ich mich vor dem kleinsten gegenwärtigen Schritt fürchtete, hielt ich mich auch für unwürdig, bei meinem verächtlichen kindischen Auftreten ernstlich mit Verantwortung die große männliche Zukunft zu beurteilen, die mir auch meistens so unmöglich vorgekommen ist, daß mir jedes kleine Fortschreiten wie eine Fälschung erschien und das Nächste unerreichbar. Wunder gab ich leichter zu als wirklichen Fortschritt, war aber zu kühl, um nicht die Wunder in ihrer Sphäre zu lassen und den wirklichen Fortschritt in der seinen. Ich konnte daher lange Zeit vor dem Einschlafen mich damit abgeben, daß ich einmal als reicher Mann in vierspännigem Wagen in der Judenstadt einfahren ein mit Unrecht geprügeltes schönes Mädchen mit einem Machtwort befreien und in meinem Wagen fortführen werde; unberührt aber von diesem spielerischen Glauben, der sich wahrscheinlich nur von einer schon ungesunden Sexualität nährte, blieb die Überzeugung, daß ich die Endprüfungen des Jahres nicht bestehen werde und wenn das gelingen sollte, daß ich in der nächsten Klasse nicht fortkommen werde und wenn auch das noch durch Schwindel vermieden würde, daß ich bei der Matura endgiltig fallen müßte und daß ich übrigens ganz bestimmt, gleichgültig in welchem Augenblick, die durch mein äußerlich regelmäßiges Aufsteigen eingeschläferten Eltern sowie die übrige Welt durch die Offenbarung einer unerhörten Unfähigkeit mit einem Male überraschen werde. Da ich aber als Wegzeiger in die Zukunft immer nur meine Unfähigkeit ansah – nur selten meine schwache litterarische Arbeit – brachte mir ein Überdenken der Zukunft niemals Nutzen; es war nur ein Fortspinnen der gegenwärtigen Trauer. Wenn ich wollte, konnte ich zwar aufrecht gehn, aber es machte mich müde und ich konnte auch nicht einsehn was mir eine krumme Haltung in Zukunft schaden konnte. Werde ich eine Zukunft haben, dann so war mein Gefühl wird sich alles von selbst in Ordnung bringen. Ein solches Princip war nicht deshalb ausgewählt, weil es Vertrauen zu einer Zukunft enthielt, deren Existenz allerdings nicht geglaubt wurde, es hatte vielmehr nur den Zweck mir das Leben zu erleichtern. So zu gehn, mich anzuziehn mich zu waschen, zu lesen, vor allem mich zu Hause einzusperren, wie es mir am wenigsten Mühe machte und wie es am wenigsten Mut verlangte. Gieng ich darüber hinaus, so kam ich nur auf lächerliche Auswege. Einmal schien es unmöglich weiterhin ohne ein schwarzes Festkleid auszukommen, besonders da ich auch vor die Entscheidung gestellt war, ob ich mich an einer Tanzstunde beteiligen wollte. Jener Schneider aus Nusle wurde gerufen und über den Schnitt des Kleides beraten. Ich war unschlüssig wie immer in solchen Fällen, in denen ich fürchten mußte, durch eine klare Auskunft nicht nur in ein unangenehmes Nächstes sondern darüber hinaus in ein noch schlimmeres fortgerissen zu werden. Ich wollte also zunächst kein schwarzes Kleid, als man mich aber vor dem fremden Mann mit dem Hinweis darauf beschämte, daß ich kein Festtagskleid habe, duldete ich es, daß ein Frack überhaupt in Vorschlag kam; da ich aber einen Frack für eine fürchterliche Umwälzung ansah, von der man schließlich reden, die man aber niemals beschließen könnte, einigten wir uns auf einen Smoking, der durch seine Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Sakko mir wenigstens erträglich schien. Als ich aber hörte, daß die Sakkoweste notwendig ausgeschnitten sei und ich dann also auch ein gestärktes Hemd tragen müßte, wurde ich, da etwas derartiges abzuwehren war, fast über meine Kräfte entschlossen. Ich wollte keinen derartigen Smoking, sondern einen wenn es sein mußte mit Seide zwar ausgefütterten und ausgeschlagenen aber hoch geschlossenen Smoking. Ein solcher Smoking war dem Schneider unbekannt, doch bemerkte er was ich mir auch immer unter einem solchen Rock vorstellte, ein Tanzkleid könne das nicht sein. Gut, dann war es also kein Tanzkleid, ich wollte auch gar nicht tanzen, das war noch lange nicht bestimmt, dagegen wollte ich den beschriebenen Rock mir machen lassen. Der Schneider war desto begriffstütziger, als ich bisher neue Kleider immer mit verschämter Flüchtigkeit, ohne Anmerkungen und Wünsche mir hatte anmessen und anprobieren lassen. Es blieb mir daher auch weil die Mutter drängte nichts anderes übrig als mit ihm, so peinlich das war, über den Altstädter Ring zur Auslage eines Händlers mit alten Kleidern zu gehn, in dessen Auslage ich schon seit längerer Zeit einen derartigen unverfänglichen Smoking ausgebreitet gesehen und für mich als brauchbar erkannt hatte. Unglücklicherweise aber war er schon aus der Auslage entfernt, selbst durch angestrengtes Schauen war er im Innern des Geschäftes nicht zu erkennen, in das Geschäft einzutreten, nur um den Smoking zu sehn wagte ich nicht so daß wir in der früheren Uneinigkeit zurück kamen. Mir aber war es so, als wäre der künftige Smoking durch die Nutzlosigkeit dieses Weges schon verflucht, zumindest benutzte ich die Ärgerlichkeit der Hin- und Gegenreden zum Vorwand den Schneider mit irgend einer kleinen Bestellung und einer Vertröstung wegen des Smokinganzuges fortzuschicken und blieb unter den Vorwürfen meiner Mutter müde zurück für immer – alles geschah mir für immer – abgehalten von Mädchen, elegantem Auftreten und Tanzunterhaltungen. Von der Fröhlichkeit, die ich hierüber gleichzeitig fühlte, war mir elend und außerdem hatte ich Angst, vor dem Schneider mich lächerlich gemacht zu haben wie bisher keine seiner Kundschaften.

3. I 12 Viel gelesen in der Neuen Rundschau. Anfang des Romans "Der nackte Mann", etwas zu dünne Klarheit im ganzen, in Einzelheiten unfehlbar. "Gabriel Schillings Flucht" von Hauptmann. Bildung der Menschen. Lehrreich im Schlechten und Guten.

Silvester. Ich hatte mir vorgenommen Nachmittag Max aus den Tagebüchern vorzulesen ich hatte mich darauf gefreut und brachte es nicht zustande. Wir fühlten nicht einheitlich, ich ahnte in ihm an diesem Nachmittag eine rechnerische Kleinlichkeit und Eile, er war fast nicht mein Freund, beherrschte mich aber immerhin noch soweit, daß ich mit seinen Augen mich in den Heften immer wieder nutzlos blättern sah und dieses Hin- und Herblättern, das immer wieder die gleichen Seiten im Vorüberfliegen zeigte, abscheulich fand. Aus dieser gegenseitigen Spannung heraus gemeinsam zu arbeiten war natürlich unmöglich und die eine Seite von R. u. S., die wir unter gegenseitigen Widerständen zustandebrachten, ist nur ein Beweis von Maxens Energie, sonst aber schlecht. Silvester bei Cada. Nicht so arg, weil Weltsch, Kisch und noch einer frisches Blut beimischten, so daß ich mich schließlich, allerdings nur in den Grenzen jener Gesellschaft doch wieder zu Max gefunden habe. Im Gedränge des Grabens drückte ich ihm dann schon ohne ihn zu sehn die Hand und gieng meine 3 Hefte an mich gepreßt, wie mir in der Erinnerung scheint, stolz geradewegs nach Hause

Die Flammen, die auf der Gasse um einen Tiegel vor einem Neubau in den Formen von Farrenkräutern ringsherum aufwärts trieben.

In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. Das war notwendig, weil meine Kräfte in ihrer Gesamtheit so gering waren, daß sie nur gesammelt dem Zweck des Schreibens halbwegs dienen konnten. Ich habe diesen Zweck natürlich nicht selbständig und bewußt gefunden, er fand sich selbst und wird jetzt nur noch durch das Bureau, aber hier von Grund aus gehindert. Jedenfalls darf ich aber dem nicht nachweinen, daß ich keine Geliebte ertragen kann; daß ich von Liebe fast genau so viel wie von Musik verstehe und mit den oberflächlichsten angeflogenen Wirkungen mich begnügen muß, daß ich zum Sylvester Schwarzwurzeln mit Spinat genachtmahlt und 1/4 Ceres dazu getrunken habe und daß ich Sonntag bei Maxens Vorlesung seiner philosophischen Arbeit nicht teilnehmen konnte; der Ausgleich alles dessen liegt klar zutage. Ich habe also nur die Bureauarbeit aus dieser Gemeinschaft hinauszuwerfen, um, da meine Entwicklung nun vollzogen ist und ich soweit ich sehen kann, nichts mehr aufzuopfern habe, mein wirkliches Leben anzufangen, in welchem mein Gesicht endlich mit dem Fortschreiten meiner Arbeiten in natürlicher Weise wird altern können.

Der Umschwung den ein Gespräch nimmt, wenn zuerst ausführlich von Sorgen der innersten Existenz gesprochen wird und hierauf nicht gerade abbrechend aber natürlich auch nicht sich daraus entwickelnd zur Sprache kommt, wann und wo man einander zum nächstenmale sehen wird und welche Umstände hiebei in Betracht gezogen werden müssen. Endet dieses Gespräch auch noch mit einem Händedruck, so geht man mit dem augenblicklichen Glauben an ein reines und festes Gefüge unseres Lebens und mit Achtung davor auseinander.

In einer Selbstbiographie läßt es sich nicht vermeiden, daß sehr häufig dort wo "einmal" der Wahrheit gemäß gesetzt werden sollte, "öfters" gesetzt wird. Denn man bleibt sich immer bewußt, daß die Erinnerung aus dem Dunkel holt, das durch das Wort "einmal" zersprengt, durch das Wort "öfters" zwar auch nicht völlig geschont, aber wenigstens in der Ansicht des Schreibenden erhalten wird und ihn über Partien hinträgt, die vielleicht in seinem Leben sich gar nicht vorgefunden haben aber ihm einen Ersatz geben für jene, die er in seiner Erinnerung auch mit einer Ahnung nicht mehr berührt.


Revision: 2021/01/09 - 23:40 - © Mauro Nervi




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